Medizinisch gut versorgt im hohen Alter – Akademien fordern evidenzbasierte Therapien für betagte Menschen
Alte
Patienten unterscheiden sich häufig körperlich, geistig und in ihren
Lebensumständen von jüngeren Patienten. Insbesondere leiden sie oftmals
an mehreren Erkrankungen gleichzeitig. Medizinisch versorgt werden sie
jedoch meist mit Medikamenten und Therapien, die bei Patienten mittleren
Alters mit einer einzelnen Erkrankung erprobt sind. Dies führt zu einer
unangemessenen Versorgung, mitunter auch zu einer Gefährdung älterer
Patienten. Darauf weisen die Nationale Akademie der Wissenschaften
Leopoldina, acatech ─ Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und
die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in der heute
veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme „Medizinische Versorgung im
Alter – Welche Evidenz brauchen wir?“ hin. Die Akademien zeigen darin
Wege auf, wie eine bessere medizinische Versorgung alter Patienten
erreicht werden kann.
Sehr
alt zu werden ist in Deutschland keine Ausnahme mehr. Rund viereinhalb
Millionen Menschen in Deutschland sind 80 Jahre alt und älter. Dies ist
auch das Verdienst eines hohen medizinischen Standards. Für die älteste
Gruppen von Patienten fehlt aber belastbares wissenschaftliches Wissen
darüber, wie ältere Menschen mit Mehrfacherkrankungen optimal versorgt
werden können. Therapie und Behandlungsziele müssen zudem Unterschieden
innerhalb der Patientengruppe gerecht werden, die zum Beispiel
kulturell, wirtschaftlich oder biografisch bedingt sein können. Die
Akademien nennen in ihrer Stellungnahme drei Ansatzpunkte, um die
Versorgung zu verbessern: Forschung, Versorgungspraxis sowie Aus- und
Weiterbildung.
(1)Im Bereich Forschung empfehlen die Akademien, auch alte Menschen, die an mehreren
Krankheiten leiden, in Arzneimittelstudien einzubeziehen. Dabei sollten
auch neue Formate wissenschaftlicher Studien genutzt werden. Zum
Beispiel solche, die die Lebensumstände der Patienten einbeziehen, um
die Bedürfnisse älterer Menschen besser abzubilden. Die Behandlungsziele
Älterer sollten gezielt in den Blick genommen werden. So sind Hören,
Sehen und Mobilität als Voraussetzungen für den Erhalt von
Selbstständigkeit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oftmals
wichtige Ziele. Die Wechselwirkungen von parallel eingenommenen
Medikamenten sollten intensiver erforscht werden, ebenso wie Wege,
Medikamente wieder abzusetzen. Als weiteres Forschungsthema nennt die
Stellungnahme den Erhalt der Selbständigkeit durch technische
Hilfsmittel, Wohnraumanpassung und Telemedizin. Hier fehlen Studien mit
größeren Fallzahlen und Kontrollgruppen.
(2)Für die Versorgung empfehlen die Akademien unter anderem, Versorgungsmodelle gezielt für
chronisch kranke und mehrfacherkrankte ältere Menschen zu entwickeln.
Zudem wird Verbesserungsbedarf beim Überleitungsmanagement und dem
Informationsfluss, zum Beispiel zwischen Krankenhäusern und
Hausarztpraxen, gesehen. Um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu
vermeiden, soll möglichst direkt bei der Aufnahme in ein Krankenhaus
eine Einschätzung der körperlichen, psychischen und sozialen Situation
(geriatrisches Assessment) vorgenommen werden. In Pflegeheimen sollten
Gesundheitsdienstleister und Bewohner sich frühzeitig über
Gesundheitsziele und die Gestaltung des letzten Lebensabschnittes
verständigen. Die Rückkehr in die häusliche Umgebung nach einem
zeitweiligen Heimaufenthalt sollte erleichtert werden und ein wichtiges
Ziel sein.
(3)In der Ausbildung und Weiterbildung befürworten die Akademien verpflichtende geriatrische Grundkenntnisse
in allen medizinischen Fachdisziplinen und Gesundheitsberufen. Um
evidenzbasierte Therapien und Versorgungskonzepte für ältere Patienten
zu entwickeln, sollte zudem die Methodenausbildung verbessert und an der
Weiterentwicklung von Studiendesigns gearbeitet werden. Hier empfehlen
die Akademien als ersten Schritt einen Lehrstuhl einzurichten, der
klinische, biostatistische und geriatrische Expertise miteinander
verbindet.
Medizinische
Versorgung im Alter – Welche Evidenz brauchen wir?, Stellungnahme der
Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der
Wissenschaften, der acatech – Deutsche Akademie der
Technikwissenschaften und der Union der deutschen Akademien der
Wissenschaften, 84 S., ISBN: 978-3-8047-3427-2