I. Befund
Digitalisierung und Datafizierung revolutionieren die Infrastruktur unserer Gesellschaft. Sie erneuern und verändern die technologischen Grundlagen unserer Kommunikations- und Arbeitswelt. Entsprechend tiefgreifend wandeln sich auch unser Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungssystem – und damit unsere Vorstellungen von Entwicklung, Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit.
Treiber dieser Transformation ist die KI-basierte Automatisierung und Robotisierung vieler Arbeitsabläufe. Ein neuer Typus maschineller Handlungsfähigkeit („machine agency“) erweitert das Spektrum kognitiver und praktischer Handlungsmöglichkeiten des Menschen um posthumane maschinelle Formen. Zahlreicher werden auch die Felder von Mensch-Computer-Interaktion sowie die Hybrid-Formen von technisch ergänzten menschlichen Lebensformen (Human Enhancement, Cyborgs).
Denkt man die Grundlinien dieses Clusters von Entwicklungen konsequent weiter, ergeben sich eine ökonomische Prognose, eine ethische Herausforderung und ein gesellschaftlicher Entscheidungsbedarf.
• Die ökonomische Prognose lautet: Wer über die leistungsfähigste künstliche Intelligenz verfügt, gewinnt die Märkte
der Zukunft und bestimmt deren makrosoziale Dynamik.
• Die Herausforderung an die Ethik unter den Bedingungen der Digitalisierung ergibt sich aus der These: Wir haben nicht, brauchen aber eine möglichst breit konsentierte Strategie zur demokratischen Gestaltung einer pluralistischen vernetzten Gesellschaft. Wir müssen klären, wie wir auf der Basis unserer gemeinsamen Werte unseren Lebensstil und -standard, sowie unseren sozialen Zusammenhalt (Solidarität) im digitalen Zeitalter kompetent, innovationsoffen und nachhaltig
sichern können.
• Der damit skizzierte gesellschaftliche Entscheidungsbedarf betrifft die grundlegenden Weichenstellungen, die in der öffentlichen Debatte sowie in Politik und Recht nötig sind, um den Wandel zur Digitalen Gesellschaft im Interesse des Gemeinwohls zu steuern. Soll dieser Wandel glücken, müssen vier Leitziele erreicht werden: Chancennutzung, Risikominimierung, Menschenrechtsschutz und Nachhaltigkeit bei der Weiterentwicklung Algorithmen- bzw. KI-basierter Systeme.
Der Standort Deutschland muss fit werden für diese Herausforderungen. Diese Aufgabe geht alle an. Sie betrifft die ganze deutsche Demokratie. Alle gesellschaftlichen Akteure stehen in der Verantwortung und sind um ihren Beitrag gebeten. Wir brauchen ein breit konsens-fähiges neues Zielbild für die Gesellschaft im Digitalen Wandel.
Über den besten Weg in die gemeinsame Digitale Zukunft müssen wir uns jetzt verständigen. Die Fortschreibung demokratischer Selbstbestimmung der Bürger*innen im Digital Age gelingt nur mit der Kreativität einer aktiven, gut informierten und klug vernetzten bürgerlichen Öffentlichkeit. Nur was man gemeinsam versteht, kann man gemeinsam diskutieren, verantworten und gestalten.
Zuvörderst brauchen wir dazu gesellschaftsweit wissenschaftlich fundierte Klarheit über wirkliche Chancen, reale Risiken und effiziente Steuerungsmöglichkeiten der digitalen Transformation. Wir müssen die Menschen befähigen, die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung selbständig zu erkennen und zum Fortschritt der Humanität zu meistern. Diese „Aufklärung“ zur Mündigkeit („Enablement“) der smart vernetzten digitalen Gesellschaft („Gesellschaft 5.0“1) kann man kurz „Aufklärung 5.0“ nennen: eine demokratische Offensive für rationale Wissens- und Lerngrundlagen im Umgang mit KI, auf denen zukunftsgestaltende Entscheidungen verantwortlich getroffen und fortlaufend optimiert werden können.
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Als Beitrag zu dieser gesellschaftlichen Aufklärungs- und Orientierungsaufgabe legt die Charta digitale Vernetzung e. V. dieses Impulspapier vor.
Es bietet hierfür eine umsichtige Navigationshilfe, zeigt nicht alternative (oder gar konträre) Ziele an, sondern bringt Transparenz in das komplexe Netzwerk der wichtigen
Ideen und Dynamiken im digitalen Wandel. Mit diesem Kompass kommen die Koordinaten in den Blick, die den Erfolgskurs zwischen Risiken und Chancen des Ausbaus der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Der Kompass ersetzt nicht, sondern fordert, stimuliert und orientiert den gesellschaftlichen Willen zur verantwortlichen Selbststeuerung im Umgang mit KI. Ohne solche informierte Willensbildung und ohne smarten Kompass in der Mitte der Gesellschaft gibt es keine genügend starke demokratische Option zur Governance des Digitalen Wandels. Vielmehr bliebe das Entscheidungsfeld auf problematische Weise dem zufälligen Kräftespiel konkurrierender Interessen und Werte überlassen.
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