Arzt und Patient: Gemeinsam über Therapie entscheiden
Voraussetzungen und Barrieren von „shared decision making“ in der Schmerzmedizin
Mannheim – „Gemeinsam
entscheiden“ lautet das Motto des diesjährigen Deutschen
Schmerzkongresses. Partizipative Entscheidungsfindung, auch „shared
decision making“ (SDM) genannt, ist ein Modell, in dem Arzt und Patient
vertrauensvoll zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung kommen. SDM
macht diesen Konsens möglich. Welche Voraussetzungen nötig und welche
Maßnahmen denkbar sind, um eine partizipative Entscheidungsfindung in
der Schmerzmedizin zu etablieren, diskutieren Experten auf dem Deutschen
Schmerzkongress (11. bis 14. Oktober 2017) und am 12. Oktober auf der
Pressekonferenz in Mannheim.
Das
2013 in Kraft getretene „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von
Patientinnen und Patienten“ (Patientenrechtegesetz) fordert, dass
Patienten umfassend aufgeklärt und an der medizinischen Entscheidung
beteiligt werden. Die Leitlinien der Schmerzmedizin fordern ebenfalls
eine partizipative Entscheidungsfindung. „Mit unserem diesjährigen
Kongressmotto ‚Gemeinsam entscheiden‘ setzen wir einen starken Akzent
auf das ‚shared
decision making‘ (SDM) und befassen uns mit der Frage, wie diese
Beteiligung konkret aussehen kann“, erklärt Professor Dr. med. Matthias Keidel, Kongresspräsident und Chefarzt der Neurologischen Klinik am Campus Bad Neustadt/Saale.
SDM
steht für eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, die aus einem
patientenzentrierten Ansatz heraus erwächst und als eine besonders
günstige Form der Arzt-Patient-Interaktion angesehen wird. Definiert
wird SDM als ein über mehrere Phasen laufender Interaktionsprozess
zwischen Arzt und Patient auf der Basis geteilter Informationen. Am Ende
steht eine gemeinsam getroffene Therapieentscheidung. Es gibt Ansätze,
die empfehlen, ein SDM dann einzusetzen, wenn verschiedene
evidenzbasierte Behandlungsmethoden zur Wahl stehen, die in ihrer
Wirksamkeit als gleichwertig gelten. Die möglichen Nebenwirkungen einer
Therapie können für den Patienten – in Abhängigkeit von seinen
Wertvorstellungen und Begleiterkrankungen – jedoch von unterschiedlicher
Bedeutung sein. Für die Behandlung von Nervenschmerzen stehen zum
Beispiel verschiedene Medikamentenklassen wie Antidepressiva,
Antikonvulsiva (Arzneimittel
zur Behandlung von Krampfanfällen) und Opioide zur Verfügung. „Falls
eine Gewichtszunahme auf keinen Fall von einem Patienten oder einer
Patientin in Kauf genommen werden will, fallen einige Medikamente bei
den Therapieoptionen weg.
Weiterhin
ist es auch die Aufgabe des Arztes, darüber zu informieren, wie der
weitere Krankheitsverlauf vermutlich sein wird, wenn keine Therapie,
beispielsweise mit Medikamenten, durchgeführt wird“, berichtet Professor
Dr. med. Winfried Häuser, Kongresspräsident, Klinik Innere Medizin I
des Klinikums Saarbrücken.
Um
ein SDM in der Schmerzmedizin zu implementieren und den Patienten zu
einem gleichberechtigten Partner im medizinischen Entscheidungsprozess
zu machen, müssen neue Wege beschritten werden. „Dazu gehört, dass
Informationen für den Patienten verständlich formuliert werden und der
Arzt die Erwartungen, Wünsche, Sorgen und Ideen des Patienten erfragt
und ihn darin unterstützt, die eigenen Präferenzen herauszufinden und zu
gewichten“, betont Häuser.
Wenngleich
es noch nicht ausreichend Erkenntnisse über den Nutzen des SDM gebe, so
sei ein positiver Effekt unbestritten: „Ein Patient, der
mitentscheidet, ist zuversichtlicher in Bezug auf den Therapieerfolg und
motivierter, an der Therapie aktiv teilzunehmen“, weiß Keidel. Es gibt
allerdings auch Patienten, die die Entscheidung lieber dem Arzt
überlassen möchten. „Gerade diese Patienten profitieren davon,
einbezogen zu werden. Ihre passive Haltung ist kein Desinteresse,
sondern eher ein Mangel an Selbstwirksamkeitserwartungen“, so der
Neurologe. Eine weitere Hürde könne sein, dass die
Kommunikationsfähigkeit des Arztes noch nicht „partizipativ“ sei, wenn
er beispielsweise zu viele Fremdwörter verwende und nicht nachfrage, ob
und wie der Patient das Ausgeführte verstanden hat. Auch das
Kommunikationsverhalten der Ärzte müsse sich also unter Umständen
ändern. Eine weitere Barriere zur Umsetzung von SDM ist die aktuelle
Gebührenordnung, welche Gesprächsleistungen bei manchen Arztgruppen
nicht vergütet. „Ein ambulant tätiger Neurologe bekommt je Patient im
Quartal je nach Bundesland circa 45 Euro pro Patient. Umgerechnet
bedeuten 45 Euro etwa 15 Minuten Zeit im Quartal. Eine Viertelstunde
sind für Diagnostik und eine umfassende Aufklärung oft nicht
ausreichend“, erklärt Professor Dr. med. Andreas Straube, Vizepräsident
der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) und
Oberarzt an der Neurologischen Klinik der Universität München, Klinikum Großhadern.
Das
Tagungsthema „Gemeinsam entscheiden“ bezieht sich auch auf die
Klug-entscheiden-Initiative der Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Diese
deutsche Qualitätsoffensive greift internationale
‚choosing-wisely-Programme‘ auf, deren Ziel es ist, die
Versorgungsqualität durch ausgewählte Empfehlungen zu verbessern. „Neben
einer gemeinsamen fach- und berufsübergreifenden Versorgung steht auch
hier die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient im
Mittelpunkt“, betonen die beiden Kongresspräsidenten. Zwölf
Fachgesellschaften haben bereits Positiv- und Negativempfehlungen
formuliert, um evidenzbasiert bei Über- oder Fehlversorgung gegensteuern
zu können.
Was
ein „shared decision making“ in der Schmerzmedizin ausmacht, wie es in
den klinischen Alltag implementiert werden kann, welche konkreten
Maßnahmen dazu ergriffen werden können und was man bereits über die
Wirksamkeit der SDM weiß, sind Fragen, die auf der Pressekonferenz am
12. Oktober 2017 anlässlich des Deutschen Schmerzkongresses und in einem
Symposium des Kongresses diskutiert werden.