Europa muss mehr Industriepolitik wagen
Immer mehr Unternehmen und Politiker machen sich
dafür stark. Zu Recht. Denn nur so können europäische Firmen global
konkurrieren.
Wenn sich die Welt so rasch wandelt wie derzeit,
kann nicht alles beim Alten bleiben. Dieser Überzeugung folgen gerade
eine Reihe deutscher Unternehmen und Politiker. Sie sprechen sich für
Industriepolitik aus, obwohl man das von ihnen nicht unbedingt erwartet
hätte. Der Versicherer Allianz gehört dazu, der Mittelständler Voith – und nun die Kanzlerin, die sich
für eine europäische Strategie starkmacht. Tatsächlich wird es Zeit,
damit aufzuhören, jede Industriepolitik reflexartig zu verdammen.
Deutschland klammert sich an Dogmen fest, über die wirtschaftliche
Kraftzentren wie China oder die Vereinigten Staaten lachend hinweggehen.
Es mag ja sein, dass keiner den Staat braucht auf
perfekten Märkten, auf denen eine große Zahl von Firmen unter gleichen
Rahmenbedingungen konkurrieren. Die wirtschaftliche Realität sieht
allerdings häufig anders aus, wie etwa der Berliner Ökonom Sebastian
Dullien nachweist. Da erringen Unternehmen einen Vorsprung, den sie sich
nicht mehr nehmen lassen – in dem sie kleine Rivalen aufkaufen. Oder
die spezifische Technologie eines Produktes begünstigt, dass ein Monopol
entsteht. Gerade in den neuen Digitalbranchen dominieren einzelne
Firmen wie Facebook, Microsoft oder Google. Da lohnt sich das
Nachdenken, was der Staat tun kann, um mit europäischen Unternehmen
etwas dagegenzusetzen. Und so mehr Wettbewerb zu schaffen.
Abwarten ist keine Lösung
Was Europa nicht wagt, tun andere im gigantischen Maßstab. Die
zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt steckt viel Geld in den Plan "China 2025". Mit reichlich Hilfe sollen heimische
Firmen Weltmarktführer werden, von der Elektromobilität über künstliche
Intelligenz bis zu neuen Werkstoffen und Medizin. Wer dann noch weiß,
dass ausländische Firmen in China nicht so frei agieren dürfen, wie es
Chinas Unternehmen in Europa beanspruchen, der versteht: Abwarten ist
keine Lösung.
Aber was genau tun? "Wir brauchen europäische Champions, die sich
auf dem Weltmarkt gegen die riesigen Wettbewerber aus den Vereinigten
Staaten und China behaupten können", heißt es beim Maschinenbauer Voith.
Bei Siemens oder der Allianz klingt es ähnlich. Hinter den wohlklingenden Sätzen
verbirgt sich eine gewisse Ratlosigkeit, wie genau erfolgreiche
Industriepolitik denn nun auszusehen hätte. Diese Leere erklärt sich
daraus, dass gerade deutsche Ökonomen bisher dafür keine Konzepte
entwickeln, sondern den reinen Glauben an den Markt predigen.
Aber diese Position ist überholt. Es war nicht der Staat, sondern der
von allen Fesseln befreite Markt spekulierender Banken, der mit der
Finanzkrise die größte Wertevernichtung der jüngeren Geschichte
produzierte. Und umgekehrt gibt es (neben den Pleiten) durchaus
Erfolgsbeispiele staatlicher Industriepolitik. Dazu gehört Airbus, dem
Desaster des Riesenvogels A380 zum Trotz: Ohne die Starthilfe
durch Europas Regierungen wäre es bei der Dominanz von Boeing geblieben –
und Tausende Jobs in Europa wären nie entstanden. Zu den Erfolgen zählt
auch, dass Südkoreas Regierung gegen den Rat der Weltbank nationale
Champions bei Stahl, Werften oder Elektro förderte, woraus Weltkonzerne
wie Samsung entstanden.
Von Planwirtschaft kann nicht die Rede sein
Für Europa gilt es nun, das Werkzeug zu entwickeln, das in die
Zeit passt. Es bleibt ja richtig, Forschung und Entwicklung zu fördern.
Aber warum nicht besonders gezielt in bestimmten Bereichen, die man sich
trauen darf, Schlüsselbranchen zu nennen? Weil so eine Förderung
danebenliegen kann? Das passiert Privatinvestoren auch. Und es liegt
doch auf der Hand, dass bestimmte Bereiche wichtig werden. Soll
Deutschland beim Mobilfunkstandard 5G wirklich vom chinesischen
Netzwerkausrüster Huawei abhängig sein? Sollen nur asiatische Firmen
Batteriezellen bauen, die für Elektroautos so zentral sind?
Wer das erwägt, kann dann noch einen Schritt weitergehen. Und
überlegen, ob das europäische Wettbewerbsrecht global genug orientiert
ist – und eine Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom als
Gegengewicht zum doppelt so großen chinesischen Weltmarktführer CRRC
nicht doch sinnvoll wäre. Oder, ob sich deutsche Unternehmen in einer
Branche mit außereuropäischen Fast-Monopolisten eine Weile schützen
lassen, bis sie stark genug für den Wettbewerb sind.
Man mag am Industrie-Papier von Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Detail manches unsinnig finden. Doch er stößt die richtige Debatte
an. Damit beschäftigt sich nun Ende März ein EU-Gipfel. Das ist kein
Zeichen von Planwirtschaft, sondern bezeugt, dass Europa den Wandel in
der Welt ernst nimmt.