Der lange Weg in die Klinik
Von
Christina Hohmann-Jeddi, Frankfurt am Main / Sie galten lange Zeit als
Hoffnungsträger, mit denen große Erwartungen verbunden waren: die
Stammzellen. 17 Jahre nach ihrer Erstbeschreibung kommen nun erste
Stammzell-basierte Therapien in die Klinik. Vom aktuellen Stand der
Forschung und neuen Ansätzen wurde auf einem Symposium in Frankfurt am
Main berichtet.
1998
gelang es dem US-amerikanischem Forscher James Thomson erstmals, eine
Zelllinie aus menschlichen embryonalen Stammzellen zu etablieren, und er
markierte damit den Beginn der Stammzellforschung. Seitdem werden große
medizinische Hoffnungen auf die totipotenten Zellen gesetzt, die sich
in verschiedenste Zellarten entwickeln können.
Stammzellen können aus Embryonen gewonnen werden oder durch Reprogrammierung von ausdifferenzierten Gewebezellen.
Foto: Shutterstock/Sebastian Kaulitzki
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Denn
während einige Organe des menschlichen Körpers wie die Haut, Leber und
das Knochenmark noch im Erwachsenenalter Stammzellen besitzen und somit
regenerationsfähig sind, haben andere wichtige Organe wie Herz, Gehirn
und Pankreas diese Fähigkeit nicht, sagte der Stammzellforscher
Professor Dr. Oliver Brüstle vom Uniklinikum Bonn. Er berichtete auf dem
von der EKHN- Stiftung der evangelischen Kirche ausgerichteten
Symposium »Der erneuerbare Mensch« von aktuellen Forschungsrichtungen.
Ersatzgewebe schaffen
Eines der Ziele der Stammzellforschung sei, Ersatzzellen oder -gewebe
für diese Organe herzustellen. So ist es Forschern mittlerweile
gelungen, primitive organoide Strukturen wie Teile der Großhirnrinde
oder Augenanlagen aus Stammzellen in der Petrischale zu bilden,
berichtete Brüstle. Zudem ist es möglich, durch Zugabe von verschiedenen
Signalmolekülen die Ausreifung von humanen embryonalen Stammzellen
(hESC) in verschiedene Zelltypen gezielt zu steuern. Neben der
Zelltherapie haben die Techniken auch großes Potenzial für die
Krankheitsforschung und die Wirkstoffentwicklung.
Wünschenswert seien in mehrerer Hinsicht autologe, also vom Patienten
stammende Zellen, erklärte Brüstle. Diese sind mittlerweile in Form der
sogenannten ipS-Zellen verfügbar. Diese induzierten pluripotenten
Stammzellen sind Gewebezellen, die durch Einschleusen von vier Genen auf
einen frühen Zustand der Embryonalentwicklung zurückversetzt, also zu
Stammzellen reprogrammiert werden. »Sie sind in der Lage, alle Zelltypen
des menschlichen Körpers herzustellen«, sagte der Forscher. Dies sei
hilfreich für die Krankheitsforschung, da eine Reihe von Erkrankungen
des Menschen wie Alzheimer oder Parkinson nicht bei Tieren vorkommt und
ihre Pathogenese daher schlecht zu untersuchen ist. »Mit den ipS-Zellen
ist es nun möglich, diese Erkrankungen quasi nachzubilden«, so Brüstle.
Als Beispiel nannte er die Machado-Joseph-Erkrankung, eine erbliche
neurodegenerative Krankheit. Mithilfe von ipS-Zellen von Patienten könne
man die Krankheitsprozesse darstellen und untersuchen und somit Targets
für die Arzneistoffentwicklung identifizieren.
Einsatz in der Wirkstofftestung
Möglichkeiten bieten die ipS-Zellen aber auch für die Testung von
Wirkstoffen: An aus ipS-Zellen von Patienten stammenden Zellen und
Geweben kann die Wirksamkeit und Sicherheit von Substanzen untersucht
werden. Wie hilfreich dies sein kann, zeigte Brüstle anhand des
Wirkstoffs Indometacin bei Alzheimer-Patienten. In Tierversuchen und
Zelluntersuchungen hatte sich gezeigt, dass bestimmte NSAR wie
Indometacin die γ-Sekretase beeinflussen und die Menge des schädlichen
β-Amyloids senken können. Doch die darauf folgenden klinischen Studien
fielen alle negativ aus, berichtete Brüstle. Um zu testen, ob dieses
Ergebnis mithilfe von ipS-Zellen hätte vorhergesagt werden können,
stellte seine Arbeitsgruppe aus Hautzellen von Patienten mit einer
familiären Form der Alzheimer-Erkrankung ipS-Zellen her und ließ diese
in Neuronen ausdifferenzieren. An diesen und an Nervenzellen aus
ipS-Zellen von Gesunden als Kontrolle testete die Arbeitsgruppe die
Wirkung von Indometacin. In beiden zeigte die Substanz keinen Effekt,
berichteten die Forscher 2013 im Fachjournal »Stem Cell Reports« (DOI:
10.1016/j.stemcr.2013.10.011). »Die Neuronen ließen sich nicht
beeindrucken, andere Zellarten schon«, berichtete Brüstle. An ihren
Zielzellen im Organismus, humanen Neuronen, war der Wirkstoff in der
präklinischen Entwicklung nie getestet worden. Laut Brüstle ließe sich
die Aussagekraft von präklinischen Untersuchungen durch die Verwendung
von ipS-Zellen deutlich verbessern.
Eine Augenanlage mit Retina stellten japanische Forscher 2011 aus embryonalen Stammzellen der Maus her.
Foto: Riken Center
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»IpS-Zellen
herzustellen, ist mittlerweile Routine geworden«, sagte der
Stammzellforscher. Zurzeit baut die Universitätsklinik Bonn zusammen mit
der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen eine
automatisierte Produktionsstraße für diese Zellen auf. Einsetzbar wären
diese zum Beispiel zur Gewinnung von Neuronen für die Therapie von
neurodegenerativen Erkrankungen. Bislang sind Transplantationen von aus
ipS-Zellen gewonnen Nervenzellen allerdings noch auf Tierversuchsniveau.
Ob sie bei Erkrankungen wie Alzheimer jemals erfolgreich sein werden,
sei schlecht abzusehen. Denn hier müsse der Ausfall vieler Neuronen
kompensiert werden, die nicht nur überleben, sondern sich auch mit
vielen tausend anderen Neuronen verschalten müssen. Etwas weiter ist man
bei der Parkinson-Erkrankung. Hier seien in Japan zwei klinische
Studien in Vorbereitung.
Die erste klinische Studie, bei der humane embryonale Stammzellen zum
Einsatz kamen, führte Steven Schwartz von der University of California
in Los Angeles durch. Insgesamt 18 Patienten mit altersbedingter
Makuladegeneration oder Morbus Stargardt, einer seltenen juvenilen
Makuladystrophie, erhielten Transplantate von aus hESC gewonnenen
retinalen Pigmentepithelzellen. Die Sehfunktion verbesserte sich bei der
Hälfte der Patienten, die transplantierten Zellen überlebten und lösten
keine Tumoren aus, berichteten die Forscher um Schwartz vergangenen
Oktober im Fachjournal »The Lancet« (DOI:
10.1016/S0140-6736(14)61820-1). In Japan begann im September 2014 eine
klinische Studie zur gleichen Indikation: Hier wurden die retinalen
Pigmentepithelzellen allerdings aus ipS-Zellen der Patienten gewonnen.
Akzeptabler Zeitrahmen
»Siebzehn Jahre nach der ersten Etablierung von Stammzelllinien erste
klinische Studien zu starten – das ist ein akzeptabler Zeitrahmen«,
sagte Brüstle. »Für Pessimismus besteht kein Grund.« In drei bis vier
Jahren dürften die Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen. Noch etwas
länger dürfte es dauern, bis die neueste Technik in der Klinik erprobt
wird: die direkte Konversion. Hierbei werden ausdifferenzierte Zellen
wie Hautzellen direkt in einen anderen Zelltyp wie Neuronen
umprogrammiert. »Diese Technik steckt allerdings noch in den
Kinderschuhen«, sagte Brüstle.
In Bezug auf die deutsche Gesetzgebung, die die Forschung an hESC
erschwert, sagte Brüstle, dass sich der Nachteil für die deutschen
Forscher durch die Entwicklung der ipS-Zellen relativiert habe. In
seinem Labor würde zu 20 Prozent mit humanen embryonalen Stammzellen und
zu 80 Prozent mit ipS-Zellen geforscht. Er geht davon aus, dass sobald
Stammzell-basierte Therapien zur Verfügung stehen, Deutschland die
Gesetzgebung so anpassen werde, dass sie auch hierzulande eingesetzt
werden können. »Wir werden von der Realität eingeholt werden.« /