(Zeit) – Die Rettungsprogramme in der Corona-Krise werden immer teurer. Doch was Deutschland sich leisten kann, hängt nicht nur von der Schuldensumme ab.
Die Unternehmen bekommen 200 Milliarden Euro, die Selbstständigen 50, die Kommunen 57 – die Corona-Krise reißt immer größere Löcher in den Staatshaushalt. Wachsen uns die Schulden über den Kopf? Geht Deutschland gar „pleite“, wie in der vergangenen Woche in der Bild-Zeitung zu lesen war? Die Antwort auf diese Fragen gibt das sogenannte Bewegungsgesetz der Staatsverschuldung, so eine Art Coca-Cola-Formel der Schuldenpolitik.
Die Grundidee ist schnell erklärt: Die meisten Ökonomen erwarten, dass die deutsche Schuldenquote – also der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung – Ende dieses Jahres bei rund 80 Prozent liegen wird und damit 20 Prozentpunkte höher als zu Beginn. Das ist hoch, aber erträglich. Wie sich diese Quote langfristig weiterentwickelt, hängt davon ab, was sich schneller vermehrt: die Schulden oder die Wirtschaftsleistung. Die Veränderung der Schulden wiederum wird bestimmt durch die Höhe des Zinses und der jährlich neu aufgenommenen Kredite. Die Veränderung der Wirtschaftsleistung durch das Wirtschaftswachstum.
Man kann sich das Gesetz an einem Zahlenbeispiel deutlich machen: Angenommen, es werden nach der kräftigen Ausweitung der Neuverschuldung in diesem Jahr vom kommenden Jahr an keine neuen Kredite mehr benötigt. Läge der Zins dann – wie derzeit in etwa – dauerhaft bei null Prozent und das Wachstum bei drei Prozent, dann ginge die Schuldenquote in den nächsten 50 Jahren auf 18 Prozent der Wirtschaftsleistung zurück. Pegelte sich der Zins hingegen bei drei Prozent ein und das Wachstum bei null Prozent, dann stiege die Schuldenquote auf 340 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Welche Größenordnungen aber sind realistisch? Und was heißt das für die staatlichen Schulden ?
Zins
Wenn Olaf Scholz im Moment beim Thema Geld großzügig sein kann, dann hat das vor allem einen Grund: Er muss für neue Kredite keine Zinsen bezahlen. Die Anleger geben ihm sogar etwas dafür, dass sie ihre Ersparnisse beim deutschen Staat parken können. Leiht sich der Bund heute einen Euro, dann muss er in zehn Jahren nach Abzug der zu erwartenden Inflation weniger als 90 Cent zurückerstatten.
Experten führen diese eigenartige Konstellation auf eine Reihe von Ursachen zurück. Die wichtigsten: Die Notenbanken fluten die Märkte mit Geld, die Unternehmen investieren weniger, eine alternde Bevölkerung spart mehr. Das zusätzliche Angebot an Kapital drückt dessen Preis – den Zins. Das hat unmittelbare Folgen für den Staatshaushalt, weil die Zinsausgaben sinken. Im vergangenen Jahr musste Scholz nur elf Milliarden Euro für die Bedienung alter Schulden aufwenden, zehn Jahre zuvor waren es noch knapp 40 Milliarden, obwohl die Gesamtsumme der Verbindlichkeiten sich kaum veränderte.
Allerdings gibt es keine Garantie dafür, dass die Zinsen dauerhaft niedrig bleiben. Experten wie der Bonner Ökonom Carl Christian von Weizsäcker erwarten, dass die Krise das Zinsniveau noch einmal nach unten drücken wird, weil die Haushalte wegen der gestiegenen Unsicherheit noch mehr sparen. Wer schafft sich schon ein Auto an, wenn nicht klar ist, ob es den eigenen Arbeitsplatz morgen noch gibt. Hinzu komme, dass in Krisenzeiten finanziell solide Länder wie Deutschland besonders günstig Kapital erhielten, weil Investoren aus finanzschwachen Ländern ihr Erspartes in Sicherheit bringen wollten.
Andere Fachleute argumentieren hingegen, dass die riesigen Rettungsprogramme die Inflation steigen lassen. Darauf müssten dann die Zentralbanken mit Zinserhöhungen reagieren, um die Preise wieder unter Kontrolle zu bringen. Es gebe mit Blick auf die Zinsentwicklung ein „Umkehrrisiko“, heißt es beim Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Allerdings ist die Bundesregierung diesem Risiko nicht schutzlos ausgeliefert. So könnte der Bund längerfristige Schuldtitel ausgeben als bisher. Die maximale Laufzeit deutscher Staatsanleihen beträgt 30 Jahre, Österreich hat Anleihen mit einer Laufzeit von 100 Jahren ausgegeben. Damit ließe sich das derzeit niedrige Zinsniveau – wohl mit einem kleinen Aufschlag – für die nächsten Generationen sichern.
Wachstum
Wenn ein Virus die Wirtschaft infiziert, dann kommt konjunkturell normalerweise ein V heraus: Es geht zunächst steil abwärts, danach aber ebenso steil wieder aufwärts. So war das zum Beispiel, als vor fünfzehn Jahren in China die Lungenkrankheit Sars grassierte. Auch in den Schuldenprognosen der Bundesregierung ist unterstellt, dass das Wachstum schon kommendes Jahr wieder anzieht und dann die Werte von vor der Krise erreicht – unterstützt durch Konjunkturprogramme und Investitionspakete.
Dieses Szenario ist nicht komplett unrealistisch, schließlich ist die Krise für Deutschlands Unternehmen am Ende auch eine Chance. Sie wird Veränderungsprozesse wie die Digitalisierung oder den Ausbau von Gesundheitsdienstleistungen beschleunigen, was der Wirtschaft neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet. Es kann aber auch ganz anders kommen, was sehr viel mit der Schwere dieser Krise zu tun hat: Wenn die Verbraucher tatsächlich wegen der krisenbedingten Verunsicherung mehr sparen, dann könnten die Unternehmen weniger Waren und Dienstleistungen absetzen. Das Wirtschaftswachstum würde zurückgehen.
Hinzu kommt: Es zeichnet sich ab, dass die Pandemie die internationale Arbeitsteilung einschränkt. Wenn Grenzen stärker kontrolliert und weltweite Lieferketten aufgesprengt werden, dann trifft das vor allem eine Exportnation wie Deutschland hart. Die Wirtschaft wird sich zwar an die neuen Gegebenheiten anpassen – aber das ist ein mühsamer Prozess, der „die Wachstumskräfte negativ beeinflussen könnte“, wie es in einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel heißt.
Das Institut erwartet deshalb, dass dem tiefen Einbruch eine schleppende Erholung folgt. Es gibt auch schon einen Namen für diesen Konjunkturverlauf: Swoosh-Recovery, nach dem so bezeichneten Logo der Sportartikelfirma Nike. Das Logo sieht aus wie ein verzerrtes V – es geht steil runter und dann viel flacher wieder nach oben. Für die Schuldendynamik wäre solch eine Wachstumskurve schlecht, zumal die Alterung der Bevölkerung zusätzlich die Wirtschaft zu bremsen droht. Die Mehrzahl der Ökonomen geht inzwischen davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland langfristig nicht mehr so hoch liegen wird wie früher, sondern irgendwo zwischen einem und zwei Prozent pro Jahr.
Etatsaldo
Die dritte Schlüsselgröße in der Schuldenpolitik kann die Politik anders als Zinsen und Wachstum direkt steuern: den jährlichen Etatsaldo. Wenn ein Staat einen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet, dann kann er mit dem Geld Schulden abbauen. Der Schuldenstand sinkt. Bleibt am Ende eines Jahres ein Defizit übrig, dann muss der Fehlbetrag durch zusätzliche Kredite gedeckt werden. Der Schuldenstand steigt.
In der Praxis wird für die Berechnung der Schuldenentwicklung allerdings nicht der normale Haushaltssaldo herangezogen, sondern der sogenannte Primärsaldo, also das Haushaltsergebnis ohne Zinszahlungen. Dieser Primärsaldo wird dann wichtig, wenn eine Kombination aus niedrigem Wachstum und hohen Zinsen zu einem starken Anstieg der Verschuldung führen würde. In einem solchen Fall muss die Regierung gegensteuern, indem sie Überschüsse erwirtschaftet. In der Geschichte ist das immer wieder vorgekommen. Das britische Königreich beispielsweise hat seine nach den napoleonischen Kriegen ruinierten Staatsfinanzen im 19. Jahrhundert durch hohe Überschüsse saniert, wie der in Bonn lehrende Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick gezeigt hat. Dagegen blieben solche Sparmaßnahmen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend aus: Die Konsolidierung gelang, weil das Wachstum hoch war und der Zins niedrig.
Und heute? Wenn das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren im Schnitt eineinhalb Prozent beträgt und die Zinsen bei null Prozent liegen, dann müsste die Regierung einen Primärüberschuss von einem Prozent erwirtschaften, damit die Schuldenquote in zehn Jahren wieder auf den Stand von Anfang 2020 fällt. Wenn für dieses Ziel 20 Jahre angesetzt werden, dann reicht sogar ein ausgeglichener Primärhaushalt. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahrzehnt lag Deutschlands Überschuss immer bei über zwei Prozent.
Das bedeutet: Auch wenn das Staatsdefizit derzeit rasant ansteigt – falls die Wirtschaft nicht komplett abstürzt und falls die Zinsen nicht deutlich steigen, dürfte sich die Staatsverschuldung auch ohne einschneidende Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen wieder unter Kontrolle bringen lassen.