Tiefenbohrungen sollen Klarheit über die Stabilität des Antarktischen Eisschildes bringen
AWI-Geowissenschaftler leiten internationale IODP-Schiffsexpeditionen in das Südpolarmeer
Geophysiker und Geologen des Alfred-Wegener-Institutes,
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung werden in den kommenden
Monaten im Rahmen des International Ocean Discovery Program (IODP)
einmalige Einblicke in die Klimageschichte der Antarktischen Eisschilde
erhalten. Die Wissenschaftler nehmen an drei Antarktis-Expeditionen des
IODP-Bohrschiffes „JOIDES Resolution“ teil und werden zwei der
Fahrtabschnitte selbst leiten. Bei den Bohrungen suchen die Forscher
nach Hinweisen darauf, wie die Eismassen der Antarktis in
zurückliegenden Warmzeiten auf Temperatursprünge reagiert haben. Diese
Informationen werden dringend benötigt, um den zukünftigen Anstieg des
Meeresspiegels genauer vorhersagen zu können. Bei dessen Berechnung gilt
das Verhalten der Antarktischen Eisschilde immer noch als große
Unbekannte.
Wie werden die Eismassen der Antarktis auf den Klimawandel reagieren und
zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen? Auf diese Frage haben
Klimaforscher bislang noch keine hinreichende Antwort, denn es fehlen
Informationen darüber, wie sich die Eisschilde in zurückliegenden
Warmzeiten verhalten haben. Geophysiker und Geologen des
Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und
Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven wollen diese Wissenslücken jetzt
schließen. Sie nehmen in den kommenden sieben Monaten an drei
internationalen Expeditionen des US-amerikanischen Bohrschiffes „JOIDES
Resolution“ in das Südpolarmeer teil und werden zwei der Fahrtabschnitte
auch wissenschaftlich leiten. Die Forschungsfahrten finden im Rahmen
des International Ocean Discovery Program (IODP) statt, welches sich der
Erforschung der Erd- und Klimageschichte mithilfe von Tiefenbohrungen
verschrieben hat.
Die erste Expedition (IODP 379) Begann am 23. Januar 2019 in Punta
Arenas (Chile) und führt das 29-köpfige internationale Forscherteam
gemeinsam mit Technikern, Bohrfachleuten und Besatzung (insgesamt 125
Menschen) in das Amundsenmeer. Das ist jene Region, die als
Achillesferse des Westantarktischen Eisschildes gilt. „Große Teile des
Westantarktischen Eisschildes liegen auf Land, das sich unterhalb der
Meeresoberfläche befindet. Das heißt, diese Eismassen sind für warme
Meeresströmungen leicht zu erreichen und reagieren deshalb besonders
empfindlich auf den Klimawandel“, sagt Dr. Karsten Gohl, AWI-Geophysiker
und einer der zwei wissenschaftlichen Fahrtleiter der Expedition.
Belege für den Zerfall des Westantarktischen Eisschildes gesucht
Die in das Amundsenmeer mündenden Gletscher verlieren derzeit schneller
Eis als alle anderen Eisströme der Antarktis und Grönlands. Außerdem
deuten Eisschild-Modellierungen und Sedimentproben aus dem Rossmeer
darauf hin, dass sich die westantarktischen Eismassen in vergangenen
Warmzeiten sehr weit zurückgezogen haben – so zum Beispiel vor 3
Millionen Jahren als im mittleren Pliozän die Durchschnittstemperatur
der Erde etwa 3 Grad Celsius wärmer war als heute. Sie entsprach somit
jener Temperatur, wie sie bei gleichbleibenden Treibhausgas-Emissionen
für das Jahr 2100 vorhergesagt wird.
Damals, so glauben die Wissenschaftler, zerfiel der Westantarktische
Eisschild nahezu vollständig. Beweise für diese Hypothese aber fehlen
bislang. Sie sollen nun bei den geplanten Tiefenbohrungen im
Amundsenmeer geborgen werden. „Wir hoffen in einer Tiefe von bis zu 100
Metern unter dem Meeresboden auf Sedimentablagerungen aus dem Pliozän
und anderen warmen Zeitaltern zu stoßen, in denen wir die Überreste von
Algen, Foraminiferen und anderen typischen Freiwasser-Organismen finden.
Sie würden belegen, dass es in diesen Zeiten nur wenig oder kaum Eis in
der Westantarktis gab“, sagt AWI-Geologe und Expeditionsteilnehmer Dr.
Johann Klages.
Funde solcher Mikrofossilien würden den Forschern auch erlauben, die
damaligen Wassertemperaturen zu rekonstruieren und im Zuge dessen zu
untersuchen, welche Umweltveränderungen zum Rückzug oder Zerfall des
Westantarktischen Eisschildes geführt haben. Dringend benötigt werden
zum Beispiel Erkenntnisse darüber, wie warm die tiefen Ozeanströmungen
damals waren. Die Wissenschaftler wollen diese historischen Werte mit
den aktuell beobachteten Tiefenwasserströmungen im Amundsenmeer
vergleichen, um herauszufinden, ob diese als Vorläufer eines möglichen
zukünftigen Zusammenbruchs betrachtet werden könnten.
Außerdem hoffen die Forscher, Spuren eines erhöhten Eisberg-Aufkommens
zu finden. „Eisberge verlieren auf ihrer Wanderung Sande, Kiese und
Steine, die in ihrem Eis eingeschlossen sind“, erklärt Johann Klages.
„Sollten wir bei unseren Bohrungen auf grobe Sand- und Kiesablagerungen
stoßen, wüssten wir, dass in vorherigen Warmzeiten große Mengen Eis vom
Eisschild abgebrochen und durch das Südpolarmeer getrieben sind“, so der
Wissenschaftler. Der geochemische Fingerabdruck der Gesteine würde die
Forschenden zudem in die Lage versetzen, die Ursprungsregion der
Eismassen zu identifizieren und zu rekonstruieren, welche Gletscher in
der entsprechenden Warmzeit am meisten Eis verloren haben.
Bohrungen auf dem Wanderpfad der Eisberge
Auf dasselbe Forschungsprinzip setzen die Teilnehmer der zweiten
Expedition (IODP 382), welche vom 20. März bis 20. Mai in das Scotiameer
führt. Die Meeresregion zwischen der Antarktischen Halbinsel und den
Falklandinseln gilt als Hauptwanderroute und Friedhof großer Eisberge.
Sollte die Antarktis in den Warmzeiten des Pliozäns und Pleistozäns viel
Eis verloren haben, müssten in diesem Gebiet entsprechende Ablagerungen
zu finden sein – aus der Westantarktis ebenso wie aus dem Ostteil.
Allerdings liegen sie in der Tiefsee: „Das Meer ist an den geplanten
Bohrstellen etwa 4000 Meter tief. Wir werden mehrere Tage lang bohren
müssen, um unsere Zieltiefe von 600 Meter unter dem Meeresboden zu
erreichen. Wichtig wird außerdem sein, dass uns in dieser Zeit kein
Eisberg in die Quere kommt“, sagt AWI-Geologe und Expeditionsteilnehmer
Dr. Thomas Ronge.
Bei jedem anderen Forschungsschiff wäre die Bohrung im Falle eines sich
nähernden Eisberges verloren – nicht so bei der „JOIDES Resolution“.
Sollte das 143 Meter lange Bohrschiff einem Eisberg ausweichen müssen,
wird das Bohrloch am Meeresgrund rechtzeitig mit einem speziellen
Falltrichter verschlossen. Dieser lässt sich jederzeit wieder orten,
sodass das Schiff dem Eisberg ausweichen und die Wissenschaftler ihre
Bohrung im Anschluss problemlos fortsetzen können.
Im größten Meeresstrom der Welt
Der dritte Fahrtabschnitt (IODP 383) unter Leitung des AWI-Geologen Dr.
Frank Lamy und der deutschen Klimawissenschaftlerin Gisela Winckler von
der Columbia University (USA) führt das Schiff ab Ende Mai in die
Meeresregion westlich der Drake-Passage. Dort, im südostpazifischen Teil
des Antarktischen Zirkumpolarstroms, dem mächtigsten Meeresstrom der
Welt, müssen die Forscher bis zu 500 Meter tief in das Klimaarchiv
Meeresboden bohren, um Sedimentablagerungen aus dem Pliozän und
Pleistozän zu bergen. „Bei unseren Untersuchungen wird es in erster
Linie um die Fragen gehen, wie die Wind- und Meeresströmungen der
Südhalbkugel in der Vergangenheit auf globale Erwärmungstrends reagiert
haben und welche folgenschweren Wechselwirkungen es zwischen der
Atmosphäre, dem Ozean und den Eismassen der Antarktis gab“, erläutert
Frank Lamy.
Die Ergebnisse aller drei Expeditionen zusammengenommen sollen die
Wissenschaftler dann in die Lage versetzen, das Verhalten der
Antarktischen Eismassen während der vergangenen Warmzeiten genau zu
rekonstruieren. Auf diese Weise würden sie dann nicht nur einen der
größten, bislang unbekannten Prozesse im Klimasystem der Erde viel
besser verstehen – sie könnten auch die zukünftige Entwicklung des west-
und ostantarktischen Eisschildes besser vorhersagen. Beide Eispanzer
speichern ausreichend Süßwasser, um den globalen Meeresspiegel um rund
58 Meter steigen zu lassen.
IODP ist ein internationales Forschungsprogramm, an dem sich die USA,
Japan, China, Korea, Indien, Brasilien, Neuseeland, Australien und 15
europäische Länder beteiligen, darunter auch Deutschland. Das
US-amerikanische IODP-Schiff „JOIDES Resolution“ kann bis zu 50
Wissenschaftler und 65 Crew-Mitglieder beherbergen. Sein Einsatz wird
durch die US-amerikanische National Science Foundation sowie durch die
Förderorganisationen aller anderen IODP-Mitgliedsländer finanziert.