Auf dem 62. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in Göttingen vom 22.-24. März 2019 war das Turner-Syndrom (= Ullrich-Turner-Syndrom, Monosomie X) ein wichtiges Thema. Jede/r Medizinstudent/in lernt im Studium die beiden Chromosomenanomalien X0 (Turner-Syndrom) und XXY (Klinefelter-Syndrom) und vielleicht auch etwas über deren Chromosomen-Mosaike. Später, während der Berufsausübung, tritt die Monosomie X jedoch meist in den Hintergrund der Tätigkeit und damit auch des Bewußtseins. In der Allgemeinbevölkerung ist das Turner-Syndrom weitestgehend unbekannt. Auf der Pressekonferenz vor Beginn des Kongresses hielt Frau Kerstin Subtil (siehe Abbildung) als Betroffene und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit der Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland e.V. einen Vortrag darüber. Am 23.3.2019 fand ein gut besuchtes Frühstückssymposium unter dem Vorsitz von Michael Ranke, Tübingen, mit dem Titel „Turner Syndrome in Adults and Children“ statt, und anschließend ein Hauptsymposium, in dem auch über die Erfahrungen aus den Niederlanden berichtet wurde . Darauf erfolgte die Offizielle Gründung der Turner-Zentren in unserem Lande.
Auf meine Bitte hin hat sich Frau Kerstin Subtil bereit erklärt, den Inhalt Ihres Presse-Vortrages für den DGE-Blog zur Verfügung zu stellen. Herzlichen Dank für das rasche Übersenden des unten stehenden Textes!
Die Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland e.V. setzt sich seit mehr als 30 Jahren für Betroffene und ihre Familien ein. Wir konzentrieren uns auf die Unterstützung bei der Diagnoseverarbeitung sowie auf den Austausch und die Weitergabe von Informationen. In 26 Regionalgruppen wird diese Arbeit in ganz Deutschland vor Ort geleistet. Daneben finden mehrere Treffen auf Bundesebene statt (Jahrestreffen, Weibertreffen, Frauenwochenende, Elternwochenende und Paarewochenende).
Bis heute ist es leider immer noch so, dass diese Chromosomen-Variation weitgehend unbekannt ist. Eltern, die neu mit der Diagnose konfrontiert werden, fühlen sich immer noch im Stich gelassen. Es kursieren nach wie vor viele Fehlinformationen. So bekam zum Beispiel ein Vater zu hören, Frauen mit Turner-Syndrom würden nicht älter als 25 Jahre (oder könnten nur in einer Behindertenwerkstätte arbeiten). Tatsächlich liegt die Lebensspanne für Turner-Frauen geschätzt bei etwa 70 Jahren, wenn nicht besondere Symptome etwa am Herzen (s.u.) vorliegen. Schwangeren Frauen wird oft zum Abbruch der Schwangerschaft geraten, wenn genetisch beim Kind die Diagnose einer Monosomie X gestellt wird. Bei etwa 1 von 2500 weiblichen Geburten wird in Deutschland ein Kind mit Turner-Syndrom geboren. Deutschlandweit müsste es also ungefähr 17000-19000 Frauen geben, die diese Variation der Geschlechtschromosomen haben. Es werden überhaupt nur 1-2 % der Mädchen mit einem Turner-Syndrom lebend geboren. Neben der reinen Form 45,X liegt in 40% der Fälle ein sogenanntes Mosaik vor (45,X, 46,XX). Während die Frauen mit reinem Turner-Syndrom in der Regel unfruchtbar sind, können Frauen mit Mosaik spontan in die Pubertät kommen. In 2%-6% dieser Fälle kommt es auch zu einer Schwangerschaft.
Ohne eine Wachstumsbehandlung werden Frauen mit Turner-Syndrom durchschnittlich 146,5 cm groß. Man kann sagen, sie werden etwa 20 cm kleiner als ihre Eltern. Wenn eine Betroffene aber große Eltern hat, muss man nicht unbedingt anhand der Größe auf ein Turner-Syndrom kommen. Eine Wachstumshormontherapie wird von ca. 80% der Betroffenen in Anspruch genommen. Auf die Therapie spricht nicht jedes Mädchen gleich an. Im Durchschnitt konnte jedoch ein Anstieg der Endgröße um 7 cm beobachtet werden. Weiterer Handlungsbedarf besteht dann beim Übergang in die Pubertät (wie vorab erwähnt, kommen die Mädchen aber zum größten Teil nicht in die Pubertät). Hier wird durch die Gabe von Hormonen (Östrogen und Gestagen) unterstützt. Ein günstiger Zeitpunkt ist zwischen 11-12 Jahren.
Die Variabilität der Auswirkungen ist so groß, dass viele Fachdisziplinen in die medizinische Versorgung mit eingebunden werden müssen. Dies ist eine große Herausforderung. So können Probleme im HNO-Bereich (Schwerhörigkeit, auch Pterygium colli), am Herzen (Aortenisthmusstenose, Vorhofseptumdefekt), den Nieren (Hufeisenniere), der Leber, im orthopädischen (Osteoporose)oder psychologischen Bereich vorhanden sein. Die Terminvereinbarung bei jedem einzelnen Arzt und die Fahrzeiten zu allen Fachleuten sind sehr zeitaufwändig. Auf dem Land ist es noch schwieriger, das alles hin zu bekommen, wenn man dort überhaupt auf einen Arzt trifft, der sich mit dem Turner-Syndrom auskennt.
Ein weiterer Aspekt ist die Problematik der Transition vom Pädiater zum Erwachsenen-Endokrinologen. Der Übergang geschieht meist sehr schnell und die junge Erwachsene wird oft nicht gut darauf vorbereitet, wie sie in Zukunft ihre Gesundheitsvorsorge managen soll. Durch einen einheitlichen Bogen in den Zentren soll auch dieser Übergang reibungsloser funktionieren. Wir finden es sehr gut, dass kompetente Fachärzte gemeinsam die Leitlinien zur Behandlung von Mädchen und Frauen mit Turner-Syndrom erarbeitet haben. Solche Leitlinien müssen aber auch umgesetzt werden. Wir unterstützen deshalb die Zertifizierung der Zentren, die sich zur Einhaltung der Leitlinien verpflichten. Wir freuen uns, wenn dadurch die Versorgung besser, umfangreicher und transparenter wird. Wir wünschen uns dadurch eine verbesserte Lebensqualität der Betroffenen und hoffen dass dies auch den Bekanntheitsgrad des Turner-Syndroms steigert.
Wir danken der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) und der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und Diabetologie (DGKED) für die sehr gute Zusammenarbeit und das Engagement, mit dem das Projekt voran getrieben wurde. Ein ganz besonderer Dank geht an Herr Prof. Binder, Herr Prof. Ranke, Frau Prof. Siggelkow, Herr Prof. Wölffle und Herr Prof. Rohrer.
Kerstin Subtil, Offenbach am Main