Wie tickt die rote Königin?

Wie tickt die rote Königin?
Kiel Evolution Center liefert neue Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen der Evolutionsdynamik
„Hierzulande musst du so schnell
rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst“: Dieser
Rat der roten Königin aus dem Buch „Alice hinter den Spiegeln“ des
britischen Schriftstellers Lewis Carroll steht auch für einen
grundlegenden Erklärungsansatz in der Evolutionsbiologie. Die nach
Carrolls Figur benannte „Rote Königin“-Hypothese besagt, dass alle Arten
von Lebewesen sich in Anpassung an eine variable Umwelt permanent
verändern müssen, um dauerhaft existieren zu können. Dieser Zwang zur
Veränderung charakterisiert die sogenannte Evolutionsdynamik, also die
ständigen wechselseitigen Anpassungen verschiedener Organismen
aneinander und an geänderte Umweltbedingungen. Die „Rote
Königin“-Hypothese ist dank zahlreicher Untersuchungen theoretisch gut
erforscht, allerdings fehlte bisher ein fundiertes Verständnis der
zugrundeliegenden Selektionsmechanismen und der daran beteiligten Gene.
Ein Forschungsteam vom Kiel Evolution Center (KEC) an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und dem
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön (MPI) hat nun
gemeinsam mit internationalen Kolleginnen und Kollegen eine
experimentelle Untersuchung dieser dynamischen gegenseitigen Anpassungen
und der sie steuernden Erbinformationen vorgelegt. Ihre Ergebnisse
veröffentlichten die Forschenden in der aktuellen Ausgabe der
Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).
Um die Grundlagen der
Evolutionsdynamik experimentell zu untersuchen, konzentrierten sich die
Kieler Forschenden auf die Koevolution des Fadenwurms Caenorhabditis elegans und seines bakteriellen Schädlings Bacillus thuringiensis.
Sie stellten fest, dass die Selektionsprozesse bei der schnellen
gegenseitigen Evolution seitens des Wirts und des Schädlings von
unterschiedlichen Faktoren abhängen: Beim Wirt wird die evolutionäre
Antwort insbesondere durch das zeitliche Muster im Wechsel der
beteiligten Genregionen gesteuert. Bei den Schädlingen prägt dagegen die
Häufigkeit bestimmter mobiler genetischer Elemente, in diesem Fall
bestimmte sogenannte Plasmide, den Anpassungsprozess entscheidend mit.
„Die genetischen Abläufe der gegenseitigen schnellen Anpassungen von
Lebewesen und Schädlingen sind komplizierter als bisher angenommen und
unterscheiden sich bei Wirt und Schädling deutlich“, betont Professor
Hinrich Schulenburg, Leiter der Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und
Genetik an der CAU, KEC-Sprecher und Fellow am MPI. „Die rote Königin
funktioniert also anders als gedacht und insbesondere die Rolle der
Plasmide und die Häufigkeit ihres Auftretens wurden dabei bisher nicht
ausreichend berücksichtigt“, so Schulenburg weiter.
Diese beiden Prozesse der
schnellen evolutionären Anpassung lassen sich mit dem Bild eines
Fußballspiels veranschaulichen: Die jeweilige genetische Ausstattung von
Wirtsorganismus und Schädling stellt zwei Teams dar, die sich im
gegenseitigen Wettkampf aufeinander einstellen müssen. Ist eines dieser
Teams offensiv besonders stark, kann die andere Mannschaft zum Beispiel
reagieren, indem sie die eigene Verteidigung stärkt und einfach mehr
Abwehrspieler aufstellt. Dies tut im übertragenen Sinne hier der
Krankheitskeim, indem er die Anzahl der mobilen Elemente erhöht und so
seine Anpassungsfähigkeit verbessert. Der Fadenwurm dagegen tauscht
bildlich gesprochen gleich die ganze Mannschaft aus. Konkret bedeutet
das, dass er sich an den Keim anpasst, indem sich jeweils größere
Genregionen im Genom gleichzeitig verändern.
Um die gegenseitigen Anpassungen
von Wurm und Bakterium in Evolutionsexperimenten zu beobachten,
infizierten die Forschenden wiederholt Populationen der Fadenwürmer mit
einem spezifischen Stamm des Keims. Die auf diesem Weg in Gang gesetzte
Koevolution der beiden Organismen untersuchte das Forschungsteam
einerseits hinsichtlich der körperlichen und andererseits der
genetischen Anpassungen. Eine in diesem Zusammenhang besonders wertvolle
Eigenschaft des Fadenwurms Caenorhabiditis elegans besteht
darin, dass sich die unterschiedlich lange koevolvierten Generationen
der Tiere direkt vergleichen lassen. Das wird möglich, weil sich die
Würmer, ohne Schaden zu nehmen, einfrieren lassen und man so die nach
dem Auftauen lebendigen Organismen mit ihren länger gemeinsam mit dem
Schädling evolvierten Nachkommen vergleichen kann. Urenkel und
Urgroßeltern können so im direkten Vergleich gleichzeitig untersucht
werden. Dies machten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
zunutze und verglichen Würmer in unterschiedlichen zeitlichen
Anpassungsstadien an den Schädling. Hierüber fanden sie heraus, dass
sich die gegenseitigen Anpassungen bereits sehr schnell innerhalb
weniger Generationen herausbilden. Ebenso wurde deutlich, dass der
Selektionsdruck bei den Schädlingen zur Bildung einer größeren Anzahl
von Plasmiden führt; diese sind für die Produktion von für den Wirt
schädlichen Toxinen verantwortlich.
In den Ergebnissen ihrer
Experimente, so hoffen die Kieler Forschenden, lässt sich möglicherweise
ein universelles Prinzip erkennen. Die Häufigkeit mobiler genetischer
Elemente ist über das Beispiel des untersuchten Bacillus thuringiensis hinaus offenbar besonders wichtig für die schnelle evolutionäre
Anpassung eines Lebewesens. Besonders deutlich wird dies, wenn man
Schadorganismen insgesamt betrachtet. In den Plasmiden verschiedenster
Krankheitskeime finden sich häufig sogenannte Virulenzfaktoren, also
solche genetischen Informationen, die die Schädlichkeit für den
Wirtsorganismus bestimmen. „Es ist möglich, dass sich Krankheitskeime
besonders schnell an ihre Wirte anpassen, indem sie einfach die
Häufigkeit der Plasmide oder auch anderer mobiler Elemente variieren.
Neue Mutationen wären erst einmal nicht notwendig“, verdeutlicht
Schulenburg. „Dieser Aspekt ist derzeit jedoch nur unzureichend
untersucht, obwohl solche Häufigkeitsunterschiede für die Einschätzung
von Virulenz und somit potenziell auch für die medizinische Diagnostik
einer Infektionserkrankung wichtig sein könnten“, fasst Schulenburg die
Bedeutung der Forschungsarbeit zusammen.