Forscher entschlüsseln die Antriebskräfte der Wanderung großer Eisberge
Tafeleisberge treiben acht Jahre und länger durch das Südpolarmeer und schmelzen vor allem an der Unterseite
Bremerhaven, 7. April 2017. Wenn in absehbarer Zukunft am
Larsen-C-Schelfeis in der Antarktis ein Tafeleisberg von der fast
siebenfachen Größe Berlins abbricht, beginnt für ihn eine Wanderung,
deren Route Klimawissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes,
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung schon jetzt ziemlich
genau vorzeichnen können. Den Forschern ist es nämlich gelungen, die
Drift antarktischer Eisberge durch das Südpolarmeer treffend zu
modellieren und dabei die physikalischen Antriebe ihrer Wanderung und
ihres Schmelzens zu identifizieren. Welche Kräfte dabei maßgeblich
wirken, hängt nämlich von der Größe des Eisberges ab. Die neuen
Ergebnisse sind im Online-Portal des Fachmagazins Journal of Geophysical
Research: Oceans erschienen.
Zurzeit schauen Polarforscher aus aller Welt gespannt auf die
Antarktische Halbinsel. Am Larsen C-Schelfeis beginnt sich ein riesiger
Eisberg vom Schelfeis abzulösen. Der zukünftige Eisberg wird etwa 175
Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle 50 Kilometer breit sein.
Das heißt, seine Gesamtfläche wird fast 6.000 Quadratkilometer betragen
und damit etwa 7-mal so groß sein wie das Stadtgebiet Berlins. Mit einem
Gesamtgewicht von etwa 1300 Gigatonnen Eis wird der Koloss außerdem
fast so viel auf die Waage bringen wie üblicherweise alle im Zeitraum
eines Jahres neu entstandenen Eisberge in der Antarktis
zusammengenommen.
Wann genau Eiskolosse dieser Größe kalben, lässt sich nicht vorhersagen.
Klimawissenschaftler des Alfred-Wegener-Institutes können jetzt aber
ziemlich genau prognostizieren, auf welchem Kurs große, mittlere und
kleine Eisberge durch das Südpolarmeer wandern – nachdem sie von der
Schelfeiskante abgebrochen sind – und welche physikalischen Kräfte die
Eismassen antreiben. Je nach Größe der Eisberge gibt es da nämlich
entscheidende Unterschiede.
Winzlinge treibt der Wind auf das offene Meer hinaus, die Riesen bleiben in Küstennähe
„Eisberge, die nicht länger und breiter als zwei Kilometer sind, treiben
innerhalb weniger Monate von der Schelfeiskante weg und aus dem
Küstenbereich heraus. Der Wind drückt sie auf das offene Meer hinaus, wo
sie dann im Laufe von zwei bis drei Jahren in kleinere Stücke
zerbrechen und schmelzen“, erläutert Thomas Rackow, Klimamodellierer am
Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und Erstautor der neuen Studie.
Bei Kolossen von der Größe des Larsen-C-Kandidaten spiele der Wind
dagegen zunächst kaum eine Rolle. Angetrieben wird die Bewegung hier vor
allem durch das Eigengewicht des Eisberges und die Tatsache, dass die
Oberfläche des Südpolarmeeres keine ebene Fläche ist, sondern sich
Richtung Norden neigt. Das heißt, an der Südküste des Weddellmeeres kann
der Meeresspiegel bis zu 0,5 Meter höher liegen als im Zentrum des
Weddellmeeres. „Wenn große Eisberge treiben, dann rutschen sie zunächst
die schräge Meeresoberfläche hinunter. Ihre Rutschbahn verläuft dabei
jedoch nicht als gerade Linie, sondern schlägt einen Bogen nach links.
Der Grund dafür ist die Corioliskraft, welche auf die Erdrotation
zurückzuführen ist und die Eisberge letztlich auf eine Bahn parallel zur
Küste ablenkt, ähnlich dem Verlauf des Küstenstroms“, erklärt Thomas
Rackow.
Auf einer von vier Hauptstraßen Richtung Norden
Die Ablenkung durch die Corioliskraft erklärt auch, warum große
Tafeleisberge die ersten drei, vier Jahre in Küstennähe verbleiben. Den
Sprung hinaus auf das offene Meer schaffen viele von ihnen erst, sobald
der Küstenstrom die Küste verlässt oder wenn sie im Packeis gefangen
sind und der Wind das Meereis samt Eisberg von der Küste wegschiebt.
„Auf diese Weise gelangen dann auch die großen Tafeleisberge in
nördlichere Meeresregionen mit wärmerem Wasser“, so Thomas Rackow.
Einmal in wärmeren Gefilden, beginnen die Tafeleisberge vor allem an der
Unterseite zu schmelzen und folgen je nach Ursprungsort einem der vier
„Highways“, die alles schwimmende Eis der Antarktis Richtung Norden
führen. Eine dieser Eisberg-Autobahnen führt an der Ostküste der
Antarktischen Halbinsel entlang aus dem Weddellmeer Richtung Atlantik.
Eine zweite Ausfahrt zweigt auf Höhe des nullten Längengrads am Ostrand
des Weddellmeeres ab – etwa dort, wo die deutsche Antarktisstation
Neumayer III auf dem Ekström-Schelfeis steht. Die dritte Ausfahrt
beginnt auf Höhe des Kerguelen-Plateaus in der Ostantarktis und die
vierte führt das Eis aus dem Rossmeer Richtung Norden (siehe Grafik).
Große Eisberge, die einmal den Weg nach Norden eingeschlagen haben,
schaffen es häufig sogar, den 60. südlichen Breitengrad zu überqueren.
Das heißt, sie legen bis zu ihrem Schmelztod oft Tausende Kilometer
zurück. Einzelne wurden auch schon vor der Küste Südamerikas oder
Neuseelands gesichtet.
Wie weit der künftige Larsen-C-Eisberg treiben wird, hängt davon ab, ob
er nach dem Abbruch als ganzer Eisberg erhalten bleibt oder schnell in
viele kleinere Stücke zerfällt. Zudem könnte der Eisberg auch für einen
gewissen Zeitraum auf Grund laufen. „Im ersten Fall stehen die Chancen
gut, dass er zunächst für etwa ein Jahr entlang der Antarktischen
Halbinsel durch das Weddellmeer treibt. Dann dürfte er Kurs Richtung
Nordosten nehmen. Das heißt, er würde in etwa Südgeorgien und die
Südlichen Sandwich-Inseln ansteuern“, sagt Thomas Rackow.
Angesichts seiner Gesamtmasse dürfte der Larsen-C-Koloss eine Lebenszeit
von acht bis zehn Jahren haben. Älter wird laut Computermodell kaum
einer der weißen Wanderer.
Für die neue Studie haben Thomas Rackow und Kollegen die realen
Positions- und Größendaten von 6912 antarktischen Eisbergen in das
Bremerhavener Meereis-Ozean-Modell FESOM eingespeist und es mit dem
dynamisch-thermodynamischen Eisberg-Modell des AWI gekoppelt. Im
Anschluss simulierten die Forscher die Drift und das Schmelzen der
Eisberge über einen Zeitraum von zwölf Jahren. Die vom Modell
berechneten Routen überprüften sie dann sowohl mit Echtdaten großer
Eisberge aus der „Antarctic Iceberg Tracking Database“ als auch mit
Positionsdaten von GPS-Sendern, die das AWI bereits in den Jahren 2000
und 2002 auf verschiedenen Eisbergen im Weddellmeer installiert hatte.
„Bei dieser Studie ging es uns in erster Linie darum, zu verstehen, in
welcher Region des Südpolarmeeres die großen Eisberge schmelzen und
somit große Mengen Süßwasser in das Meer eintragen. Dass es uns nun auch
gelungen ist, die grundlegenden Mechanismen so umfassend zu
entschlüsseln, freut uns aber umso mehr“, sagt Thomas Rackow.