Erstmals seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine droht Russland offen mit dem Stopp von Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1. Ein solcher Lieferstopp sei angesichts der „unbegründeten Anschuldigungen gegen Russland bezüglich der Energiekrise in Europa und des Verbots von Nord Stream 2“ gerechtfertigt, erklärte der russische Vize-Regierungschef Alexander Nowak im staatlichen Fernsehen. Russland habe daher „das volle Recht, eine spiegelgerechte Entscheidung zu treffen und ein Embargo zu verhängen.“ Was hieße ein möglicher Gas-Lieferstopp durch Nord Stream 1 für deutsche Verbraucher? FOCUS Online beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist Nord Stream 1 überhaupt?
Nord Stream 1 ist eine über 1200 Kilometer lange Pipeline durch die Ostsee, die Erdgas aus Russland nach Deutschland transportiert. Abgesehen vom Start- und Endpunkt verläuft die Pipeline ausschließlich durch Seegebiete. Die im September 2011 in Betrieb genommene Pipeline besteht aus zwei Strängen. Das gesamte Investitionsvolumen beläuft sich auf 7,4 Milliarden Euro.
Wie viel russisches Gas fließt durch die Pipeline?
Durch die Ostsee-Pipeline flossen 2020 um die 59 Milliarden Kubikmeter Gas. Damit lassen sich über 26 Millionen Haushalte versorgen – und somit mehr als die Hälfte aller deutschen Haushalte. Seit Inbetriebnahme wurden bereits über 440 Milliarden Kubikmeter Erdgas durch diese Pipeline transportiert. Das Erdgas ist aber nicht ausschließlich für den deutschen Markt bestimmt. Ein nennenswerter Anteil wird auch ins weitere europäische Ausland transportiert. Über den Neubau der Pipeline Nord Stream 2 sollten 90 Prozent des Erdgases nach Ost- und Südeuropa weitergeleitet werden.
Wie hängt die Pipeline mit dem Ukraine-Krieg zusammen?
Der mögliche Gas-Lieferstopp hängt unmittelbar mit dem Ukraine-Krieg und den Sanktionen der westlichen Staaten zusammen. Das für Russland strategisch wichtige Prestigeprojekt Nord Stream 2 legte die Bundesregierung als Reaktion auf den Einmarsch vorerst auf Eis. Die Betreibergesellschaft soll deshalb bereits Mitarbeiter entlassen und Insolvenz angemeldet haben. Da die westliche Reaktion in Moskau auf großen Unmut stößt, lotet Russland nun geeignete Gegensanktion aus. Da Europa ein großer Importeur russischen Erdgases ist, kann der Lieferstopp über Nord Stream 1 die europäischen Staaten erheblich treffen.
Wie abhängig sind Deutschland und Europa von Nord Stream 1?
Die Abhängigkeit von russischem Erdgas ist groß – in Deutschland sogar noch größer als in der Europäischen Union. Im Jahr 2020 lag der Erdgasverbrauch in Deutschland bei etwa 87 Milliarden Kubikmeter und in der EU bei etwa 380 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums bezieht Deutschland derzeit rund 55 Prozent seines Erdgases aus Russland. Für 2019 beziffert die European Union Agency for the Cooperation of Energy Regulators (ACER) den deutschen Import von russischem Erdgas auf 49 Prozent. In Europa kommen hingegen „nur“ 40 Prozent der Erdgasimporte aus Russland.
Bislang droht Moskau nur mit dem Abdrehen von Nord Stream 1. Daneben gibt es aber noch andere Leitungen von Russland nach Europa. Die meisten werden unter dem Namen „Transgas-Trasse“ zusammengefasst. Durch dieses Pipelinesystem – mit einer jährlichen Transportkapazität von 120 Milliarden Kubikmetern – fließen etwa zwei Drittel des russischen Gases nach Westeuropa. Im Zuge einer Sanktionierung von Nord Stream 1 könnte Russland auch dieses Pipelinesystem schließen – und damit die Gasimporte auf Eis legen.
Allein der Wegfall der Ostsee-Pipeline würde Europa bereits massiv belasten. Zwar reichen die Speicherstände der Gastanks noch für die laufende Kälteperiode aus. Für den kommenden Winter 2023 ist die Gasversorgung aber noch nicht in ausreichendem Maße durch Alternativlieferanten gesichert.
Nach Einschätzung der EU-Kommission hat Europa jedoch das Potenzial, von den 155 Milliarden Kubikmetern aus Russland importierten Erdgases effektiv 112 Milliarden Kubikmeter zu ersetzen. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien soll dabei insbesondere Flüssiggas (LNG) eine erhebliche Rolle spielen. Das Problem: Es fehlt kurzfristig an ausreichenden Transportkapazitäten – also an Tankern und Häfen. Daher plant die Bundesregierung bereits den Bau von mehreren Flüssiggasterminals, beispielsweise in Brunsbüttel und Stade. Der Bau solcher Terminals dauert in Deutschland jedoch mehrere Jahre. Kurzfristig bleiben Deutschland und Europa damit abhängig von russischem Erdgas – und so anfällig für Versorgungsengpässe im kommenden Winter.
Wird meine Gasrechnung noch teurer, wenn Nord Stream 1 gestoppt wird?
Davon ist auszugehen. Zum einen wird der in den letzten Tagen stark gestiegene Erdgaspreis die Verbraucher mittelbar treffen, da die Erdgaspreise in der Regel erst zeitlich versetzt an die Verbraucher weitergegeben werden. Zum anderen könnte es „erhebliche Fehlentwicklungen am Erdgasmarkt“ geben, wie die „Zeit“ die Wissenschaftler der Leopoldina in einer kürzlich veröffentlichten Kurzstudie zitiert.
Wenn die europäischen Staaten es nämlich über den Sommer schaffen, die Gasspeicher zu füllen, „könnte Russland den Markt mit billigem Erdgas fluten und so den europäischen Gasimporteuren einen erheblichen Schaden zufügen“. Denn diese könnten ihr teuer eingekauftes Erdgas nicht mehr an die Verbraucher verkaufen. Wenn die Staaten hingegen ihre Gasspeicher in der Hoffnung auf niedrigere Gaspreise nicht füllen, könnte Russland das Angebot künstlich verknappen, wodurch der Erdgaspreis noch weiter steigen könnte. Und das trifft dann mittelbar auch den Verbraucher.
Bereits Mitte Februar warnte DIW-Chef Marcel Fratzscher bei „ntv“ vor den Folgen eines Gas-Lieferstopps. So könne es sein, dass Unternehmen eine Zeitlang schließen müssten, da das Heizen von Wohnungen wichtiger als die Industrie sei. Dies könnte dann neben einem starken Anziehen der Inflation – die ohnehin schon bei 5,1 Prozent liegt – auch in einer Rezession münden. Das wäre wirtschaftlich gesehen „dann wirklich der Super-GAU“.
Wie hoch die Kosten eines Gas-Lieferstopps wären, berechneten jüngst Ökonomen der Universitäten Bonn und Köln. Demzufolge könnte das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,5 Prozent bis 3 Prozent zurückgehen. Das entspricht zwischen 100 bis 1000 Euro Kosten pro Einwohner. Zum Vergleich: Durch die Corona-Pandemie sank das BIP um 4,5 Prozent.
Wie geht es jetzt weiter?
Kurzfristig bleibt Europa von russischem Erdgas abhängig. Ein Gas-Lieferstopp durch die Pipeline Nord Stream 1 würde Europa – insbesondere Deutschland – nochmals hart treffen. Verbraucher müssen sich daher auf weiter steigende Gas- und Ölpreise einstellen.
Langfristig spielt die Zeit aber für Europa. Die europäischen Staaten werden sich aus der russischen Abhängigkeit lösen können. Dadurch sollten sich die Preise wieder auf einem etwas höherem Niveau als zuvor normalisieren können. Doch der daraus für Russland entstehende wirtschaftliche Schaden kann die Langfristwirkung der westlichen Sanktionen sogar noch übertreffen.