Goethe, Trump und die Mathematik

Zur Bedeutung der Mathematik in der digitalen Bildung

(Ulrich Trottenberg) –  Goethe und Trump in einem Atemzug? Eines der größten literarischen Genies der Geschichte und die Inkarnation der aggressiven Ignoranz – die haben doch gar nichts gemeinsam, sollte man meinen. In einem Bereich leider doch: Beide hatten und haben ein sehr distanziertes Verhältnis zur Mathematik und zur mathematischen Wahrheit. Bei Trump, der in einer selbst geschaffenen narzisstischen Realität lebt, bedarf das vielleicht keiner genaueren Erläuterung, weil man weiß, wie er ganz allgemein mit der Wahrheit und mit Erkenntnissen der Naturwissenschaften umgeht. Aber Goethe – der mit seinen naturwissenschaftlichen Studien mehr Zeit verbracht hat als mit seiner Dichtung und dem zum Beispiel seine Farbenlehre besonders wichtig war? Die Elementarmathematik hat Goethe gelten lassen und wohl sogar geschätzt, aber über die „Höhere Mathematik“ und die Mathematiker (und Physiker) hat er gespottet: „Dass aber ein Mathematiker, aus dem Hexengewirr seiner Formeln heraus, zur Anschauung der Natur käme und Sinn und Verstand, unabhängig, wie ein gesunder Mensch brauchte, werd‘ ich wohl nicht erleben.“

Wir wollen der Frage, was Goethe zu dieser Geringschätzung der Mathematik veranlasst hat, hier nicht weiter nachgehen. Uns interessiert vielmehr die Frage, was heute los ist. Heute ist geradezu alles, was in der Welt an prinzipieller und an konkreter Erkenntnis gewonnen und an Innovation erreicht wird, wesentlich durch Mathematik geprägt: jede technische und naturwissenschaftliche Entwicklung, jedes Gerät, jeder Algorithmus hat zumindest auch eine mathematische Dimension. Das hat aber nicht etwa zur Folge, dass die heutigen Menschen in ihrer Mehrheit von der Mathematik fasziniert wären – bei den meisten, jedenfalls bei sehr vielen Menschen lösen mathematische Themen auch heute noch eher Unbehagen und unangenehme Erinnerungen an die Schule aus als Interesse und Begeisterung. Und auch heute erlebt man in der Öffentlichkeit, in TV-Shows, in den Medien, ja sogar in der Politik noch immer die augenzwinkernde Koketterie mit dem zur Schau gestellten und durch schlechte Schulleistungen nachgewiesenen Desinteresse an Mathematik.

Mathematik hat beides, die abstrakte und die angewandte Seite. Für viele Fachleute und Interessenten ist die abstrakte Seite der Mathematik von faszinierender Schönheit. Einer großen Öffentlichkeit hat sich die Schönheit der Mathematik aber gerade in Deutschland nicht vermittelt. Und das mag in der Tat damit zusammenhängen, dass die meisten Menschen im „Land der Dichter und Denker“ Schönheit eher in der Natur, in der Kunst und in der traditionellen Kultur suchen und finden – als in etwas scheinbar Unsinnlichem wie der Mathematik. Und dafür steht eben Goethe und nicht etwa Gauss – auch wenn Daniel Kehlmann mit „Die Vermessung der Welt“ Gauss ein Stück weit ins reale Leben geholt hat. Die Mathematik als Hochkultur, gar Liebe zur Mathematik – das scheint dann doch eher eine Emotion für einen kleinen Kreis von weltabgewandten Spezialisten zu sein.

Mit der angewandten Seite der Mathematik werden wir dagegen täglich durch eine Fülle naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Gesetzmäßigkeiten konfrontiert. Noch eindrücklicher erleben wir die angewandte Mathematik in diesen Jahren und Jahrzehnten aber in den rasanten Entwicklungen der Technik, insbesondere in der sich immer weiter beschleunigenden Digitalisierung. Die digitalen Entwicklungen bieten faszinierende Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung, in allen technischen und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen und damit in einer auf vielfältige Weise innovativ geprägten Welt. Aber auch für die persönliche Lebensgestaltung und –vorsorge, etwa durch die individualisierte, datenintensive Medizin der Zukunft, deuten sich großartige Chancen an. Dass trotz dieser vielversprechenden Perspektiven die digitalen Entwicklungen ethisch und politisch gesteuert und rechtlich kontrolliert werden müssen, sollte gesellschaftlicher Konsens sein. Gerade in Deutschland haben aber die ängstlichen, überkritischen, bisweilen dystopischen Einschätzungen der Technologieentwicklung ein besonderes Gewicht– bis hin zum endzeitlichen Bild der Übernahme der Welt durch sich selbst weiterentwickelnde robotische Maschinen. Auch wenn die prinzipiell wertfreien Modelle der Mathematik dabei für beides stehen, für Utopie und Dystopie, sie werden vielen Menschen eher mit der düsteren als mit der beglückenden Zukunft assoziiert.

Dies sind Beschreibungen, keine Erklärungen für die sich von Mathematik distanzierende Koketterie, das Desinteresse, die Abneigung, den Hass auf die Mathematik. Was sind die Gründe? Ist es vielleicht der (schlechte) Mathematik-Unterricht, der eine positive Beziehung zur Mathematik in so vielen Fällen so nachhaltig stört? Tatsächlich gibt es viele hochkompetente und hochengagierte Mathematiklehrerinnen und –lehrer in deutschen Schulen. Andererseits hat der Autor es in seinen Seminaren und bei vielen anderen Gelegenheiten leider immer wieder erleben müssen, dass die Lehrerinnen und Lehrer versuchen, den Schülerinnen und Schülern mathematische Zusammenhänge zu „erklären“, die sie selbst nicht verstanden haben. Und das ist dann wirklich verheerend und meist das Ende jeder mathematischen Bildungsbemühung. Solche gravierenden Fehler werden oft nur hochbegabten Schülerinnen und Schülern durchschaut.

Auch in diesen Jahren und Tagen spielt das Thema „mathematische Bildung“ wieder eine aktuelle Rolle. Es kommt über die digitale Bildung ins Spiel. Digitale Bildung, darüber sind sich alle Akteure einig, ist eins der wichtigsten politischen Ziele überhaupt, Deutschland hat hier einen extremen Nachholbedarf. Aber sofort stellt sich die Frage: Was sind denn die Ziele der digitalen Bildung? Wofür sollen die Milliarden €, die seit einigen Jahren den Ministerien, Schulen, Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung stehen, denn ausgegeben werden? Eine einfache (und richtige) Antwort ist: für Vernetzung, für die Ausstattung mit Hardware – darüber wird man sich schnell einig (auch wenn sich die Beschaffung als solche dann vielleicht über Jahre hinzieht und die Geräte schnell wieder veralten). Aber dann? Was sind dann – wenn die Ausstattung vorhanden ist und die Arbeit anfangen kann – die Inhalte des digitalen Unterrichts? Öffentlich diskutierte Ziele sind insbesondere: Medienkompetenz, Programmierkenntnisse, Grundlagen der Informatik usw. – und immer wieder Medienkompetenz. Von mathematischen Inhalten ist in der öffentlichen und politischen Diskussion kaum die Rede.

Die Substanz alles Digitalen sind die Algorithmen. Aber dass Algorithmen immer auch einen mathematischen Kern haben, wird so deutlich nicht gesagt. Kurios ist, dass gerade in Deutschland Informatik ein sehr positives Image hat, Mathematik aber ein überwiegend negatives. Sachlich ist das nicht begründet: Informatik und Mathematik haben einen großen Überlappungsbereich. Einige meiner führenden Kollegen machen gar keinen Unterschied zwischen den beiden Disziplinen. Und tatsächlich sind es gerade die Algorithmen, von denen man oft gar nicht sagen kann, ob sie eher der Mathematik oder der Informatik zuzuordnen sind. Gerade in den neuesten Entwicklungen wachsen zum Beispiel Algorithmen, die eher mit Daten umgehen und daher traditionell eher der Informatik zugeordnet werden, und Algorithmen, in denen überwiegend gerechnet wird und die daher eher der Mathematik zugeordnet werden, methodisch immer stärker zusammen. Die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz und des Maschinellen Lernens sind dafür besonders markante Beispiele.

Insofern eröffnet die systematische Beschäftigung mit den grundlegenden Prinzipien traditioneller und aktueller Algorithmen eine große Chance, die Mathematik von ihrem negativen Image zu befreien und Mathematik und Informatik als zwei Seiten einer Medaille zu begreifen. Und wenn dieses Zusammenspiel schon in der Schule praktiziert und verstanden wird, hat Deutschland auch eine Chance, methodisch Anschluss an die internationale digitale Entwicklung zu finden.