Die Ära der Cyborgs hat begonnen

Ob medizinische Implantate, komplexe
Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine oder ferngesteuerte
Insekten: Die jüngsten Entwicklungen zur Verbindung von Maschinen und
Organismen besitzen erhebliches Potenzial, werfen aber auch wichtige
ethische Fragen auf. In ihrem Übersichtsartikel „Chemie der Cyborgs –
zur Verknüpfung technischer Systeme mit Lebewesen“ erörtern
KIT-Wissenschaftler den aktuellen Stand der Forschung, Chancen und
Risiken. Der Artikel ist in der renommierten Zeitschrift „Angewandte
Chemie“ erschienen. (DOI: 10.1002/ange.201307495)

Sie
sind aus Science-Fiction-Romanen und -Filmen bekannt – technisch
veränderte Lebewesen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, sogenannte
Cyborgs. Die Bezeichnung leitet sich von englisch „cybernetic organism“
(kybernetischer Organismus) ab. Tatsächlich sind Cyborgs als
Verknüpfungen technischer Systeme mit lebendigen Organismen bereits
Wirklichkeit, vor allem durch implantierte medizinische Systeme, wie die
KIT-Forscher Professor Christof M. Niemeyer und Dr. Stefan Giselbrecht
vom Institut für Biologische Grenzflächen 1 (IBG 1) sowie Dr. Bastian E.
Rapp vom Institut für Mikrostrukturtechnologie (IMT) in ihrem Artikel
erläutern.

Medizinische
Implantate haben in den vergangenen Jahren beeindruckende Fortschritte
gemacht. Möglich wurde dies durch intelligente Materialien, die
selbstständig auf sich verändernde Bedingungen reagieren,
computergestütztes Design und Fertigung aufgrund von
Magnetresonanztomografie-Datensätzen sowie Oberflächenmodifikationen,
die eine verbesserte Gewebeintegration gewährleisten. Eine besondere
Rolle für eine erfolgreiche Gewebeintegration und die Vermeidung von
Entzündungsreaktionen spielen spezielle Oberflächenbeschichtungen, wie
sie auch am KIT entwickelt werden, etwa im Rahmen des multidisziplinären
Helmholtz-Programms „BioGrenzflächen“.

Fortschritte
in der Mikroelektronik und der Halbleitertechnologi
e haben elektronische Implantate ermöglicht, die Funktionen des
menschlichen Körpers kontrollieren, wiederherstellen oder verbessern,
wie Herzschrittmacher, Netzhautimplantate, Hörimplantate oder Implantate
für die Hirn-Tiefenstimulation zur Schmerzbehandlung oder zur
Parkinson-Therapie. Gegenwärtig verschmelzen Entwicklungen der
Bioelektronik und der Robotik, um hochkomplexe Neuroprothesen zu
ermöglichen. Wissenschaftler arbeiten dazu an
Gehirn-Maschine-Schnittstellen (brain-machine interfaces – BMI) zur
direkten physikalischen Kontaktierung des Gehirns. BMIs dienen unter
anderem dazu, Prothesen zu steuern und komplexe Bewegungen wie
beispielsweise Greifen zu ermöglichen. Darüber hinaus sind sie wichtige
Werkzeuge für die Neurowissenschaften, da sie Einblicke in die
Funktionsweise des Gehirns ermöglichen. Zusätzlich zu elektrischen
Signalen lassen sich auch Substanzen, die zeitlich und räumlich
kontrolliert aus implantierten mikro- und nanofluidischen Systemen
freigesetzt werden, zur Kommunikation zwi
schen technischen Systemen und Organismen verwenden.

BMIs
werden meist als Datenlieferanten betrachtet. Grundsätzlich lassen sie
sich aber auch dazu nutzen, Signale in das Gehirn einzuspeisen – ein
ethisch hochkontroverses Thema. „Implantierte BMIs, die Signale in
Nerven, Muskeln oder direkt ins Gehirn einspeisen, sind bereits im
alltäglichen Gebrauch, etwa in Herzschrittmachern oder Implantaten für
die Hirn-Tiefenstimulation“, erklärt Professor Christof M. Niemeyer vom
KIT. „Aber diese Signale sind weder dazu gedacht noch dazu geeignet,
einen gesamten Organismus zu kontrollieren – die Gehirne der meisten
lebenden Organismen sind dazu zu komplex.“

Bei
niederen Organismen wie Insekten sind die Gehirne deutlich weniger
komplex, sodass eine Signaleinkopplung mitunter direkt ein bestimmtes
Bewegungsprogramm wie Laufen oder Fliegen auslösen kann. Die sogenannten
Biobots, beispielsweise große Insekten mit implantierten elektronischen
und mikrofluidischen Kontrolleinheiten, werden zur Entwicklung einer
neuen Generation von Werkzeugen eingesetzt, etwa kleiner flugfähiger
Objekte für Überwachungs- und Rettungsmissionen. Darüber hinaus dienen
sie als Modellsysteme in den Neurowissenschaften, um grundlegende
Zusammenhänge zu verstehen.

Elektrisch
aktive med
izinische Implantate, die über längere Zeit im Einsatz sind, müssen
zuverlässig mit Energie versorgt werden. Derzeit arbeiten
Wissenschaftler an Methoden, um dazu die körpereigene thermische,
kinetische, elektrische oder chemische Energie des Patienten zu nutzen. –
Zusammenfassend stellen die KIT-Forscher fest, dass die Entwicklungen
zur Kopplung von technischen Systemen mit Organismen ein faszinierendes
Potenzial bergen und gerade in der Medizin die Lebensqualität vieler
Menschen erheblich verbessern können, dass bei ihrer Nutzung aber stets
ethische und soziale Aspekte zu berücksichtigen sind.

Die
„Angewandte Chemie“ gilt als weltweit wichtigste Zeitschrift für
chemische Forschung und besteht seit 125 Jahren. Im Abschlussheft des
Jubiläumsjahrga
ngs ist der Artikel der KIT-Wissenschaftler über Cyborgs als Titelthema
erschienen