Die Türkei ist ein besonders krasses
Beispiel für die globale Schuldenmanie, die nach der Finanzkrise auf die
Schwellenländer übergesprungen ist. Die Risiken waren bekannt, die
Warnungen nicht zu überhören. Aber all das hat nichts genützt.
Die Story ist schnell erzählt. Zwei selbsternannte starke Männer
verstricken sich in einen Streit. Keiner der beiden will nachgeben. Der
eine, US-Präsident Donald Trump, verhängt Sanktionen gegen ein Land, mit
dem Amerika seit sieben Jahrzehnten eine strategische Partnerschaft in
der Nato pflegt.
Der andere, der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan, ruft
sein Volk zur patriotischen Tat, um eine akute Wirtschafts- und
Währungskrise abzuwenden: Kauft keine iPhones, tauscht eure Dollars in
Lira! Und er begibt sich auf die Suche nach neuen Partnern.
Das Ende dieser Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aber es ist
möglich, dass die Schäden groß und dauerhaft sein werden – für die
türkische Bevölkerung, aber auch für die geopolitische Rolle der USA und
die Sicherheit Europas.
Die Story von den zwei alten, sturen Männern ist nicht falsch. Aber
sie verdeckt andere, tiefergehende Zusammenhänge. Denn in der
Wirtschaftskrise am Bosporus zeigen sich auch grundlegende
Unzulänglichkeiten des globalen Finanzkapitalismus.
Es stimmt schon: Ausgelöst wurde die derzeitige Zuspitzung – der
rapide Verfall der Währung, der sprunghafte Anstieg der Inflation –
durch den Konflikt zweier nationalpopulistischer Führungsfiguren. Doch
die eigentlichen Ursachen liegen tiefer. Die Probleme der Türkei sind,
so gesehen, kein Einzelfall, sondern ein Symptom.
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an
der Technischen Universität Dortmund. Zuvor war Müller stellvertretender
Chefredakteur des manager magazins.
Die aktuelle Krise wirft zwei große Fragen auf: Wie kann es
eigentlich sein, dass die türkische Volkswirtschaft über Jahre immer
höhere Schulden aufgetürmt hat? Und: Warum waren internationale
Investoren überhaupt bereit, diese gigantischen Summen zu verleihen?
Angst vor der Pleitewelle
Dass Grundlegendes schiefläuft, ist seit Jahren bekannt. Bereits im
Sommer 2013 war es zu einem Ausverkauf an den Börsen diverser
Schwellenländer gekommen. Auslöser war damals die Ankündigung der
US-Notenbank Fed gewesen, allmählich den Krisenmodus zu verlassen und
weniger Geld in die Märkte zu pumpen.
Die Aussicht auf steigende US-Zinsen schürte die Angst vor einer
Pleitewelle in den Schwellenländern. Die Fed stellte daraufhin zunächst
ihre Pläne zurück.
Im Sommer 2014 warnte dann die Bank für Internationalen
Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel erneut vor dem rapiden Schuldenaufbau
in den Schwellenländern. Und es waren nicht die Staaten oder die
Privatbürger, die in großem Stil Kredite aufnahmen, sondern die
Unternehmen. Schon damals warnte die BIZ insbesondere vor der
Entwicklung in der Türkei.
Risikoreich war nicht nur die Höhe der Schulden, sondern auch ihre
Zusammensetzung. Weil in den USA, der Eurozone, Japan und anderen
reichen Ländern die Zinsen extrem niedrig waren – die großen Notenbanken
pumpten massiv Geld in die Märkte, und sie tun dies zum Teil bis heute
-, liehen sich Unternehmen Dollars und Euros.
Mehr als 90 Prozent der internationalen Anleihen und mehr als 80
Prozent der internationalen Bankkredite, die an Unternehmen in den
Schwellenländern vergeben worden waren, lauteten auf ausländische
Währung, so die BIZ im Jahr 2014.
Firmen liehen sich Geld in Dollar oder Euro. Ihre Einnahmen jedoch
bezogen sie überwiegend in heimischer Währung. Ein Vabanque-Spiel: Im
Falle einer Abwertung würde es für hochverschuldete Unternehmen
erheblich teurer, ihre Fremdwährungsschulden zu bedienen. Auch an neue
Kredite zu kommen, würde schwieriger und kostspieliger – spätere Pleiten
nicht ausgeschlossen.
Die Risiken waren bekannt, die Warnungen nicht zu überhören. Dennoch ging das Schuldenspiel immer weiter.
Die Folgen sind ziemlich dramatisch. Seit 2008 hat sich das Volumen
der Dollar-Kredite, die an die Schwellenländer vergeben wurden, mehr
als verdoppelt: auf inzwischen sagenhafte 3,6 Billionen.
Mancher Schuldner droht nun in der Schuldenfalle steckenzubleiben.
Denn der Dollar ist in den vergangenen Monaten deutlich stärker
geworden. Und weil die US-Zinsen steigen, werden Anschlussfinanzierungen
tendenziell noch teurer – falls sie überhaupt zu bekommen sind.
Angewiesen auf ausländisches Geld
Wie gesagt, die Türkei ist kein Einzelfall, aber ein besonders
krasses Beispiel für die globale Schuldenmanie, die nach der Finanzkrise
von 2008 von den westlichen Volkswirtschaften auf die Schwellenländer
übersprang.
Nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vergaben
türkische Banken über Jahre deutlich mehr Kredite in Fremdwährung als in
Lira. Dazu kommen Fremdwährungsanleihen türkischer Schuldner. Insgesamt
lautet ein Viertel der ausstehenden Verbindlichkeiten auf Euro, Dollar
und Yen, so die OECD.
Die rapide Abwertung der Lira ist vor allem deshalb so brisant,
weil die Türkei auf ständige Mittelzuflüsse aus dem Ausland angewiesen
ist: In der Leistungsbilanz klafft ein Loch von fünf Prozent der
Wirtschaftsleistung. Die Inflation steigt, was die Währung weiter unter
Druck setzt und die Lage weiter verschlechtert. Betroffen sind auch
Banken in der Eurozone, die womöglich einen Teil ihrer
Türkei-Forderungen abschreiben müssen.
Andere Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika drohen in den
Strudel des Misstrauens mitgezogen werden, auch wenn die Bedingungen
dort deutlich besser sind.
Am Ende steht die Frage: Wer ist eigentlich schuld?