Neurologie-Kongress in Lissabon zum Schwerpunkt Neurogenetik
Lissabon (pts017/15.06.2018/11:45) – "Neurologische
Erkrankungen wie Schlaganfall, Demenz, Kopfschmerz, Multiple Sklerose
oder Parkinson sind in Europa Ursache Nummer eins für Behinderungen und
Ursache Nummer zwei für Todesfälle. Was das menschlich aber auch
ökonomisch bedeutet – von verlorenen Lebensjahren bis hin zu den
direkten und indirekten Kosten – sollte nicht nur die Forschung
beschäftigen, sondern vor allem die Politik", sagte Prof. Dr. Günther
Deuschl, Präsident der European Acadamy of Neurology (EAN) zum Auftakt
des 4. EAN-Kongresses in Lissabon.
Eine internationale Recherchegruppe hat in der "Global
Burden of Disease Study" dargelegt, wie verbreitet neurologische
Erkrankungen sind: 2015 wurden aufgrund neurologischer Erkrankungen
weltweit 250,7 Millionen DALYs (disability-adjusted life years)
verzeichnet, also gesunde Lebensjahre, die durch Krankheit
beeinträchtigt sind oder durch frühzeitiges Ableben verloren gehen. Das
sind mehr als zehn Prozent aller DALYs insgesamt. Störungen des
zentralen Nervensystems haben im selben Jahr zu 9,4 Millionen
Todesfällen geführt, das heißt zu fast 17 Prozent aller Todesfälle
weltweit.
Schlaganfall und Demenz Hauptursache für Tod oder Behinderung
Die Studie ermittelte auch, inwieweit neurologische
Erkrankungen in den letzten 25 Jahren zugenommen haben. Sie kam bei den
Todesfällen auf einen weltweiten Anstieg von 36,7 Prozent zwischen 1990
und 2015, und das, obwohl die Sterberaten bei Schlaganfall oder
übertragbaren neurologischen Erkrankungen deutlich zurückgegangen sind.
Auch die Zahl der DALYs ging im gleichen Zeitraum um 7,4 Prozent hinauf.
"Ein Ende dieses Trends, der hauptsächlich dem Bevölkerungswachstum und
demografischen Wandel geschuldet ist, lässt sich nicht absehen.
Haupttreiber für diese Entwicklung sind vor allem Schlaganfall und
demenzielle Erkrankungen", betont Prof. Deuschl.
Schlaganfall verursacht global betrachtet die meisten
DALYs (47,3 Prozent) von allen neurologischen Erkrankungen und auch die
meisten Todesfälle (67,3 Prozent). Alzheimer und andere Demenzformen
liegen bei den Behinderungen auf Platz vier, bei den Todesfällen auf
Platz 2. "Die neue Studie beweist eindringlich, dass sich neurologische
Erkrankungen von einer vielfach unterschätzten, oft unterbehandelten
Krankheitsgruppe zu einer massiven Herausforderung für die Gesundheits-
und Sozialpolitik entwickeln", so Prof. Deuschl.
EAN fordert mehr Ressourcen für Forschung und Prävention
Die European Academy of Neurology ist gerade dabei,
detailliertere Daten zur Verbreitung neurologischer Krankheiten in
Europa auszuwerten. "Wir möchten weitere Zahlen und Fakten erarbeiten
und diese den nationalen Fachgesellschaften und der Politik zur
Verfügung stellen", sagte EAN-Vizepräsident Prof. Dr. Franz Fazekas.
"Die EU-Staaten müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie
jetzt Geld in die Hand nehmen wollen, damit sich künftig neurologische
Krankheiten verhindern, hintanhalten oder heilen lassen. Oder ob sie
dieses Geld künftig ohnehin ausgeben müssen, weil die Zahl der Patienten
immer mehr zunimmt." Die European Academy of Neurology fordert daher
mehr Präventionsmaßnahmen und abgestufte Versorgungsstrukturen für die
wichtigsten neurologischen Erkrankungen.
Wie Prof. Fazekas betont, tragen die wissenschaftlichen
und politischen Anstrengungen jetzt schon erste Früchte, etwa bei
Schlaganfall, wo die Sterbe- und Behinderungsraten immer mehr
zurückgehen. "Die bessere Vorbeugung oder die Einführung von Stroke
Units beginnen sich auszuwirken. Es gibt aber immer noch gewaltige
Unterschiede innerhalb Europas, oft sogar innerhalb einzelner Länder."
Das bestätigt auch "Value of Treatment", eine
umfangreiche Arbeit des European Brain Councils: In Europa erhalten von
zehn Patienten mit einer Erkrankung des Zentralnervensystems bis zu acht
keine oder nur unzulängliche Behandlungen, obwohl es effektive
Therapien gäbe. Dabei scheitert es oft auch am Fehlen von definierten
Behandlungspfaden oder Spezialeinrichtungen, an verabsäumter
Rehabilitation oder an nicht vorhandener psychosozialer Unterstützung
der Betroffenen und ihres Umfelds. "Die Studie benennt nicht nur die
Versorgungslücken, sondern gibt auch anhand von Best-Practice-Beispielen
evidenzbasierte Empfehlungen, wie die Versorgung kosteneffizient
optimiert werden könnte. Es liegt nun an der Politik, diese wertvollen
Informationen zu nutzen", so Prof. Fazekas.
Essentiell sei jedenfalls auch, die
grenzüberschreitende Forschung ausreichend zu dotieren und zu
intensivieren, um die Belastungen durch neurologische Erkrankungen
besser in den Griff zu bekommen. "Wir hoffen, dass die vorliegenden
Fakten Politiker und Entscheidungsträger überzeugen werden, in die
Zukunft unserer Gesellschaft zu investieren und spezifische
Forschungsprogramme in diesem Bereich ins Leben zu rufen", sagt Prof.
Fazekas.
Neurogenetik als Kongressschwerpunkt
Der 4. EAN-Kongress in Lissabon hat sich heuer das
Schwerpunktthema Neurogenetik vorgenommen, denn es gibt immer mehr
Einsichten über die genetische Komponente vieler neurologischer
Erkrankungen. Und was die Thematik noch relevanter macht – die
Gentherapie scheint nun in der Praxis anzukommen. "Beim Kongress geht es
uns um konkrete Beispiele, was Neurogenetik bereits leisten kann, in
welche Richtung sich diese Disziplin gerade entwickelt und wo Ansätze
der Zukunft, aber auch mögliche ethische Grenzen liegen", so
EAN-Präsident Prof. Deuschl. "Neurogenetik ist zwar auch nicht der Stein
der Weisen, der alle Probleme löst. Sie hilft aber, Krankheiten oder
Krankheitsgruppen neu einzuordnen und ist vielversprechend, wenn es um
neue Behandlungsansätze geht."
Neurogenetik ist auch ein wichtiger Schlüssel, um viele
seltene Erkrankungen zu identifizieren, die neurologische Symptome
verursachen und häufig lange Zeit nicht erkannt werden – mit der Folge,
dass betroffene Patienten keine Gewissheit über ihre Erkrankung haben.
Das ist umso relevanter, als es für eine Reihe dieser Erkrankungen
bereits therapeutische Optionen gibt, etwa Enzymersatztherapien,
zielgerichtete medikamentöse Therapien oder spezifische Diäten. Es gibt
beispielsweise eine spezielle Form der Mikroangiopathie – einer
Erkrankung der kleinen Blutgefäße -, die man über bestimmte
Genmutationen feststellen kann. Diese Diagnose hat Konsequenzen für die
humangenetische Beratung der Betroffenen und deren Angehörige.
Bei häufigen neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie,
Alzheimer oder Parkinson gibt es familiäre Formen, die man nun erkennen
und so Betroffene beraten kann, welche Risiken mit der Erkrankung
verbunden sein können und was das für Nachkommen bedeuten kann. Es sind
auch schon Gen-Ersatztherapien am Horizont, die erstmals Heilung für
schwere, ständig fortschreitende Erkrankungen wie die spinale
Muskelatrophie (SMA) oder die Friedreich-Ataxie bringen könnten.
"Wir möchten, dass möglichst viele Menschen in Europa
von den neuesten Erkenntnissen profitieren, dafür ist unser Kongress
eine wertvolle Informationsdrehscheibe, wo die Besten von den Besten
lernen können", schloss Prof. Fazekas.
Quellen: GBD 2015 Neurological Disorders Collaborator Group: Global, regional,
and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a
systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015, Lancet
Neurol 2017; 16: 877-97, https://goo.gl/8PtZqU ; European Brain Council: The Value of Treatment: http://www.braincouncil.eu/activities/projects/the-value-of-treatment